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Die fragliche "Rezension" des Buches durch Sabine Andresen, mit dem von der Rezensentin entstellten Titel, zum Verständnis der vorausgehenden Entgegnung:

Opfer - Engel - Menschenkind
Seht ihr die Kinder leiden?

Etwas Lebigs muss in den neuen Deich, wenn er den elementaren Naturkräften standhalten soll. Einst opferte man einen Säugling, doch der freigeistige und fortschrittliche "Schimmelreiter" verhinderte sogar das "Bauopfer" eines stromernden Hundes. Dass Erwachsene die Hilflosigkeit des Kindes instrumentalisieren und aus eigenen Interessen das Lebensrecht des Kindes missachten, ist Kern des Buches von Dieter Hoof. In diesem Sinne verweist er in seiner Monographie zum Kindheitsverständnis in Altertum und früher Neuzeit auf die Novelle `Der Schimmelreiter´ (1888) von Theodor Storm und zieht mit seiner Frage nach der kulturellen Nachhaltigkeit von Opferpraktiken und Opfererzählungen letztlich eine Linie vom Altertum bis in die Gegenwart. Nun werden im neuen Jahrtausend in der Regel keine Neugeborenen und auch keine Hunde zum Gelingen eines Bauvorhabens geopfert, ebenso wenig wie Knaben und Mädchen auf dem Altar abgeschlachtet und verbrannt werden, um eine zürnende Gottheit milde zu stimmen. Trotzdem hat der Autor eine Botschaft für seine Zeitgenossen, und zwar die, dass sich im Zuge der Fortschrittsgeschichte zwar die Formen, aber nicht die Ursprünge kindlichen Leidens verändert hätten.
     Hoof will einen Beitrag zur Geschichte der Kindheit schreiben und sowohl nach den Kindern selbst als auch nach Bewusstseinsgehalten verschiedener Epochen fragen. Er untersucht einen Zeitraum vom ca. 2. Jahrtausend vor Christus bis in die Renaissance, was jedoch durch eine übergreifende Einschätzung relativiert wird, da Hoof mit Lloyd deMause "die Kinder weinen" hört. Kindheitsgeschichte diskutiert er vor dem Hintergrund seines "Leitbegriffs" des Diskurses, nämlich dem "Lebensrecht des Kindes". Dieses verschaffe sich Geltung durch Lebenswillen, Urvertrauen und Liebesfähigkeit, Komponenten, die bei Hoof gleichsam unabdingbar für menschliches Dasein sind und die zugleich seine historischen Bewertungskriterien darstellen. Im ersten Kapitel setzt sich der Autor mit alttestamentarischen Geschichten auseinander. Hier interessieren ihn ausschließlich die Geschichten über die religiös motivierte Opferung von Kindern.
     Dieses düster konstruierte Kapitel über das Alte Testament wird durch die vor allem kunsthistorische Darstellung des Artemis-Heiligtums von Brauron abgelöst; schliesslich war es Artemis, die Iphigenie vor dem väterlichen Opfermord errettete und somit in den Augen des Autors einen Paradigmenwechsel hin zur Humanität auslöste. Im dritten und vierten Kapitel geht es schliesslich um Engel und um das für Hoof angemessene Verständnis vom Kind, denn Kinder als Engel seien Wesen von einer ursprünglichen, göttlichen Natur, die den Erwachsenen verloren gegangen ist (S. 17).
     Die alttestamentarischen Geschichten sind der Ausgangspunkt für eine Bewertung der späteren Epochen, und an diesem Abschnitt lässt sich zeigen, wie Hoof vorgeht. Er verlegt zunächst den zeitlichen Ursprung der Kinder-Opferpraxis in die erste Hälfte des 2. Jahrtausends vor Christus und versucht eine Einbettung in die israelitische Religionsgeschichte. Zwei Arten von Kinderopfern im Alten Testament stellt der Autor als dominant heraus, die Darbietung der männlichen Erstgeburt und das Kinderopfer für Baal/Moloch.
     Hoof tritt nun an, um "in akzentuierter Weise nach den betroffenen Kindern selbst zu fragen" (S.24). Diese in der historischen Kindheitsforschung zweifellos anspruchsvolle Herausforderung muss bei den zur Verfügung stehenden Quellen hypothetisch bleiben. So tendieren auch Hoofs Rekonstruktionen eher zu moralisch aufgeladenen Spekulationen, die in einem gestaltpädagogischen Unterricht ihren Platz haben mögen, wenn der Autor überlegt, wie sich Isaak gefühlt haben mag, als er gemeinsam mit dem Vater, dem Holz, dem Feuer und dem Messer, aber ohne Opferlamm den Berg bestieg (Genesis 22), oder welche Angst Jeftahs Tochter hatte, als der Vater an ihr das vollzog, was er im Falle eines Sieges über die Ammoniter versprochen hatte (Richter 11, 30-39).In der historischen Kindheitsforschung ist es ein wichtiges Anliegen, Erkenntnisse über das Handeln, Fühlen und Denken von Kindern selbst zu gewinnen, nach darüber Auskunft gebenden Quellen zu forschen oder neue Fragen an bekannte Quellen zu stellen. Hoof ist moralisch empört über die Opferung von Kindern, und aus dieser Perspektive fragt er nach den Empfindungen der Opfer. Seine Antworten haben viel mit "gesunden Menschenverstand" und Empathie, aber wenig mit historischer Forschung zu tun.
     In einem gegenwartsorientierten Kontext stehen in diesem Abschnitt Hoofs Einschübe zur Verwendung der Opferungsgeschichten im Religionsunterricht bis in die heutige Zeit. Er verlässt darin die Ebene der historischen Rekonstruktion und Interpretation, um nach der Wirkung auf Grundschulkinder und dem Sinn eines solchen Religionsunterrichts zu fragen. Die Geschichte von Abraham und Isaak, den Gott buchstäblich in letzter Sekunde rettet, befindet sich in nahezu allen Kinderbibeln und Religionsbüchern, und Hoofs Kritik daran ist durchaus nachvollziehbar. Sie bleibt jedoch in einer Studie, die einen wissenschaftlichen Beitrag zur Kindheitsgeschichte leisten will, zwangsläufig fragmentarisch und unbefriedigend.
     Während im ersten Kapitel vornehmlich das Alte Testament als Quelle zugrunde gelegt wurde, stehen in den folgenden Kapiteln Kunstwerke im Vordergrund der Betrachtung. Die Kinderbildnisse des Heiligtums von Brauron beispielsweise deutet Hoof als Hinweis auf die humane Gesinnung des Zeitalters, dem 4. Jh.v.Chr., die Eltern offenbar motivierte, individualisierte Bildnisse von ihren Kindern aufzustellen, und sie befähigte, Kinder in ihrem "Sosein" anzuerkennen. Auf die Verdammung der alttestamentarischen Erzählungen folgt die Idealisierung ästhetisierter Kindheitsvorstellungen, ohne im einen oder anderen Fall den komplexen Kontext zu berücksichtigen.
     Da für den Autor bereits im Heiligtum von Brauron das Bewusstsein für die Individualität des Kindes deutlich wurde, scheint es konsequent, dass er abschließend die Renaissance am Beispiel von Florenz untersucht und dort ebenfalls nach der Ästhetisierung des individuellen Kindes fragt. Hier konzentriert sich der Autor auf die Quellen über ein florentinisches Heim für Findelkinder (Ospedale degli Innocenti), das als Bauwerk nicht zuletzt deshalb herausragend und interessant ist, weil in seinen Tondi an der Aussenfassade Wickelkinder dargestellt sind.
     Insgesamt zeigt sich an der Kunstbetrachtung Hoofs dominierender Zugang zur historischen Forschung und sein Verständnis von Kunst, Ästhetik, Pädagogik und dem sozialen Kontext: Einerseits stellt er in der Kunst Korrespondenzen zur Wirklichkeit fest, andererseits manifestiert sich in der Kunst ganz im Sinne Ernst Blochs, auf den er mehrfach verweist, der Vorschein einer besseren Welt.
     Die Lektüre von `Opfer - Engel - Menschenkind´ hinterlässt eine gewisse Ratlosigkeit. Dem Appell, das "Lebensrecht des Kindes" zu respektieren, Kinder nicht zu instrumentalisieren und brutal zu opfern, ist moralisch kaum zu widersprechen. Ob es dazu einer solchen wenig abgesicherten und moralisierenden historischen Rekonstruktion einer Geschichte der Kindheit bedarf, ist zweifelhaft. Hoofs Buch zeigt erneut, wie schwer es offenbar ist, wissenschaftlich über Kinder und Kindheit zu diskutieren, ohne dem Zauber des Neuen, ohne der Imagination der Unschuld und ohne der Sehnsucht nach Harmonie zu erliegen. Die historische Kindheitsforschung steht demnach weiterhin vor grossen Herausforderungen, mindestens was den Zusammenhang zwischen Moralität und Kind betrifft.

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