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Dieter Hoof

Kindheit in alter Zeit

Fragen nach Alltagsleben, Rollenzuweisung und Akzeptanz
von Kindern in den antiken Mittelmeerkulturen


Mädchen mit Vogel als Spielgefährten
Abb. 1: Ein etwa vierjähriges griechisches Mädchen mit Vogel als Spielgefährte.
4. Jhd. v. Chr., aus Agrai am Ilissos, heute im Stadtgebiet von Athen.
Marmor, Höhe 41 cm. Vermutlich eine Votivgabe von Eltern
an die Geburts-Göttin Eileithyia. Archäologisches Nationalmuseum Athen.
Photo des Museums

Die Darstellung kann man, in Übertragung eines heutigen Begriffes aus der Photographie, als Aufnahme aus einem Kinderleben verstehen. Zur Erstinformation über die bekannte Skulptur siehe Hoof, Opfer - Engel - Menschenkind. Studien zum Kindheitsverständnis in Altertum und früher Neuzeit 1999, S. 267.

 

I n h a l t s v e r z e i c h n i s

  1. Problemfelder und neue Ansätze in der althistorischen Kindheitsforschung
  2. Das Evidenzproblem in der althistorischen Kindheitsforschung
  3. 1. „Lebenswirklichkeit“ und Annäherung an Kindheit
    2. Mentalitäten und Bewusstseinsstrukturen in historischen Epochen
    3. Der Blick auf das einzelne Kind und der Erkenntnis-Zusammenhang
    4. Geschichte der Kindheit als interdisziplinäres Forschungsfeld
    5. Besonderer Aspektbereich: Die psychohistorische Forschung
    6. Eine axiomatische Grundkategorie für das Kindheitsverständnis
    7. Kindheitsgeschichtliche Zusammenhänge in Zeit und Raum
    Literaturverzeichnis zu Kap. B
  4. Klassische und hellenistische Kinderbildnisse
  5. Zur Diskussion um die Evidenz der Kinderopfer-Überlieferung
  6. Literaturverzeichnis zu Kap. D
  7. Anmerkungen

 

A. Problemfelder und neue Ansätze der Kindheitsforschung

Wie haben die Kinder in den antiken Kulturen "wirklich" gelebt? Wie gestaltete sich ihr Leben in der Familie? Wie war ihr emotionaler und mentaler Lebensraum? Wie sind Joseph und seine Brüder in der Familie groß geworden? Und welche Bedeutung hatten ihre Mutter und ihr Vater im Alltag für sie? Wie war es möglich, dass ein Patriarch wie Abraham seine Dienstmagd mitsamt dem von ihm selbst gezeugten Sohn Ismael in die Wüste jagen konnte, wo sie verdursten mussten? Was ging seelisch in dem Manne vor? Und wie reagierte die Umwelt auf eine derartige Handlungsweise? Wie brachten Feldherren und Könige es fertig, ihre Kinder zum Opfer auf den Blutaltar zu legen, der Achaier Agamemnon zum Beispiel, der Gileaditer Jephta oder der Moabiter Mesa? Oder welche mentale Prägung mögen diejenigen in ihrer Kindheit im Einzelnen erfahren haben, die später die wunderschönen Liebesverse des Hohenliedes verfassen konnten?

Vorstehender Beitrag versteht sich als forschungsmethodische Erörterung und enthält in der Hauptsache einen Vortrag Das Evidenzproblem in der althistorischen Kindheitsforschung, den der Verfasser am 30. September 2004 in Leipzig auf einer Tagung des Instituts für Alttestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig gehalten hat. Die Tagung stand unter dem Titel "Schaffe mir Kinder, wenn nicht so sterbe ich" (Gen.3,1). Das Kind in den antiken Mittelmeerkulturen. Die Tagungsbeiträge sind herausgegeben von Andreas Kuntz-Lübcke und Rüdiger Lux unter dem Titel "Schaffe mir Kinder …" Beiträge zur Kindheit im alten Israel und in seinen Nachbarländern (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, Bd. 21), Leipzig 2005.

Die auf der Tagung verhandelten Sachthemen machen die inhaltliche Vielfalt und Differenziertheit der althistorischen Kindheitsforschung deutlich:

Konrad Volk, Von Findel-, Waisen- verkauften und deportierten Kindern. Notizen aus Babylonien und Assyrien
Erika Feucht, Kinderarbeit und Erziehung im Alten Ägypten
Josef Neumann, Kindheit in der griechisch-römischen Antike. Entwicklung - Erziehung - Erwartung
Andreas Michel, Gewalt gegen Kinder im Alten Israel. Eine sozialgeschichtliche Perspektive
Andreas Kunz-Lübcke, Wahrnehmung von Adoleszenz in der Hebräischen Bibel und in den Nachbarkulturen Israels
Rüdiger Lux, Die Kinder auf der Gasse. Ein Kindheitsmotiv in der prophetischen Gerichts- und Heilsverkündigung
Otto Kaiser, Erziehung und Bildung in der Weisheit des Jesus Sirach

Ein weit ausgreifendes interdisziplinäres Spektrum zur Kindheit in der Alten Geschichte ist ebenfalls in einer Ringvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig zum Ausdruck gekommen:
Rüdiger Lux (Hg.), Schau auf die Kleinen... Das Kind in Religion, Kirche und Gesellschaft, Leipzig 2002.

Inhaltlich umfassend ist sodann die neuere Studie von Andreas Kunz-Lübcke, Das Kind in den antiken Kulturendes Mittelmeeres. Israel - Ägypten - Griechenland, Neukirchen-Vluyn 2007. - Der Verfasser hat sich außerdem zu dem Thema Gotteslob in Kindermund. Zu einer Theologie der Kinder in Psalm 8 geäußert (in Berlejung / Heckl, Mensch und König, Studien zur Anthropologie des Alten Testamentes, Freiburg 2008, 85-196)

Ebenfalls aus dem Leipziger Institut für Alttestamentliche Wissenschaft stammt die Arbeit von Jens Weißflog, Zeichen und Symbole. Die Kinder der Propheten Jesaja und Hosea, Leipzig 2011.

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"Alte Geschichte" umgreift wie ersichtlich die Geschichte der alttestamentlichen Völker und Staaten, namentlich der Israeliten, und die griechisch-römische Antike, ebenso die mesopotamischen Kulturen sowie Ägypten in ihren Verflechtungen mit dem mediterranen Kulturbereich

Die Alte Geschichte in ihrer Gesamtheit kann in einer Hinsicht als eine Grundschicht der europäischen Geschichte verstanden werden, auch was besondere historische Themen anbetrifft, wie die zur Rede stehende Geschichte der Kindheit (des Kindeslebens) und des Kindheitsverständnisses.

Die der Althistorischen Kindheitsforschung zur Verfügung stehenden Quellen sind von vielfältiger Art. Es gibt Textquellen und gegenständlich-archäologische Quellen. Sie gehören den verschiedensten Gattungen an, und sie sind auch für jede Epoche und kulturelle Phase der Alten Geschichte unterschiedlich, namentlich, im Hinblick auf die Evidenz zu gewinnender inhaltlicher Aussagen und deren zeitlich-räumliche Gültigkeit. Evidenz-Erörterungen richten sich, wie im Folgenden zu zeigen ist, quasi auf alle Aspekte der Quellen, seien sie literarkritischer, chronologischer, typologischer oder kunsthistorischer Art, und sie begleiten den gesamten kindheitsgeschichtlichen Diskurs, namentlich in der Zuspitzung auf mentalitätsgeschichtliche Ergebnisse.

Was im Besonderen den alttestamentlichen Kulturbereich anbetrifft, so stehen uns neben archäologischen Quellen vor allem Textquellen zur Verfügung. Bei den biblischen Quellentexten stellen Rüdiger Lux und Andreas Kunz-Lübcke in der Einleitung zu dem o.a. Tagungsband von 2005 vier methodische Fragen (Probleme) heraus (hier in zusammengefasster Form):

- Die biblischen Autoren - sie gehörten der literarischen Elite ihres Volkes an - schreiben nicht primär über Kinder, sondern sie erzählen über Kinder in übergreifenden Zusammenhängen. Es ist zu ermitteln, wie sie die Kinder wahrgenommen haben.
- Für die Literarisierung der Kinder in der Hebräischen Bibel zeichnen unterschiedliche soziale Trägergruppen verantwortlich. Wer hat über Kinder geschrieben?
- Es wird über Grausamleiten verschiedenster Art an Kindern geschrieben. In welchem argumentativen und emotionalen Zusammenhang sind die betreffenden Texte zu verstehen?
- Untersuchungen zum "Thema Kind" stehen in Israel wie in allen antiken Mittelmeerkulturen vor der Aufgabe, die jeweiligen, oft sehr unterschiedlichen demographischen Bedingungsrahmen zu berücksichtigen.

Für die griechisch-römische Antike sind im Hinblick auf Kindheit alle Quellen-Gruppen - Textquellen wie gegenständlich-archäologische Quellen - reichlich vertreten. Sie alle können unter vielfältigen forschungsmethodischen Ansprüchen durchgesehen werden (siehe hierzu w.u.). Für den mesopotamischen Raum sowie für Ägypten darf Entsprechendes vorausgesetzt werden.

Die methodologische Problematik in ihrer Gesamtheit wird in dem hier folgenden Teil-Beitrag ausgebreitet.
(Vorbemerkung: Die Abkürzungen der biblischen Bücher folgen der Zürcher Bibel.)

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B. Das Evidenzproblem in der althistorischen Kindheitsforschung

1. "Lebenswirklichkeit" und Annäherung an Kindheit

Wie jedes historische Fach strebt auch die hisorische Kindheitsforschung danach, Fakten aus dem zu erforschenden Ausschnitt vergangener Lebenswirklichkeit zu ermitteln und in einen Zusammenhang zu bringen, so dass nach Möglichkeit wieder lebendige Bilder vor dem geistigen Auge erstehen. In der Kindheitsforschung kann "Lebenswirklichkeit" fürs erste verstanden werden als das Insgesamt alles dessen, was in der betreffenden Epoche und Kultur für ein Kind oder für Gruppen von Kindern Realität geworden ist, in sozial-ökonomischer, zwischenmenschlich-erzieherischer und religiöser Hinsicht.

Der religiöse Bereich im Insgesamt der kindlichen Lebenswirklichkeit mag einer eher unhistorisch ausgerichteten Sozialforschung unserer Tage marginal erscheinen. Tatsächlich jedoch war Religion entsprechend ihrer Bedeutung in den alten Gesellschaften immer auch ein entscheidender Faktor für das Leben des Kindes - über die notwendigen lebenspraktischen und sozialen Erfahrungen hinaus. In dem Maße, wie die gesellschaftlichen Lebensbereiche ineinander greifen, ist auch das Lernen des Kindes ein komplexer Vorgang. Das Kind lernt in seinem sozialen Verband, die Herde zu hüten oder den Acker zu bebauen u n d der Gottheit im kultischen Akt die Erstgeburt oder das Dankopfer für den Ertrag des Ackers darzubringen. Für unsere Zeit in der "Gottesferne" wäre nach dem gewiss bestehenden Äquivalent für Religion in der Erziehung zu fragen.

Kinder waren nicht nur lernende Subjekte religiöser Praxis, sie waren auch deren Objekte, indem nämlich über sie verfügt wurde. Das kommt am deutlichsten im religiösen Brauch des Kinderopfers zum Ausdruck, was uns noch mehrfach beschäftigen wird. Am Kinderopfer wird sich auch zeigen, dass mit "Lebenswirklichkeit" ein mehrschichtiger Zusammenhang von Fakten und Hintergründen in der historischen Lage bezeichnet ist.

Es sei kurz auf die Begriffe hingewiesen. "Kindheit" bezeichnet - in der Sichtweise unseres Zeitalters - zum einen die Lebensphase eines bestimmten Menschen vor der Pubertät und zum anderen die Lebensform einer umgrenzbaren Gesamtheit von Menschen, die sich in dieser Lebensphase befinden. Beide Bestimmungen gehen ineinander über. "Kindheitsgeschichte" oder "Geschichte der Kindheit" ist die Darstellung der kindlichen Lebensformen im geschichtlichen Verlauf unter maßgeblicher Berücksichtigung der Kindheit bzw. von Ausschnitten der Kindheit persönlich bestimmbarer Menschen. Darin eingeschlossen ist "Erziehung" - anthropologisch gesehen. Denn Erziehung bestimmt immer in irgendeiner Form die Kindheit; sie findet funktional und intentional statt. Sodann hören wir von "Bildung". Der Begriff bezeichnet mit wechselnden historischen Akzentsetzungen besonders die institutionalisierten Erziehungsformen und -ziele. Bildung kann auch funktionale Züge haben. Somit betreffen die Formulierungen "Geschichte der Kindheit", "Geschichte der Erziehung", und "Geschichte der Bildung" zum größeren Teil einen gemeinsamen Bereich menschlicher Entfaltung. Wenn die gesellschaftliche Seite der menschlichen Entfaltung besonders herausstellt werden soll, kann man auch von "Sozialisation" sprechen. Darunter sind alle funktionalen und intentionalen Einflüsse zu verstehen, die das Kind im sozialen Miteinander empfängt und von denen es geprägt wird, sowie alle Möglichkeiten, die ihm gegeben sind, zu Hause und außer Hause, in der Bildungsstätte und überall - in der jeweiligen Lebenswirklichkeit.

Eine feste altersmäßige Eingrenzung von Kindheit ist entwicklungspsychologisch nicht möglich. Auch in qualitativer Hinsicht kann Kindheit nicht eindeutig bestimmt werden. Die Dauer der Kindheit sowie deren Eigentümlichkeiten sind vielmehr von verschiedenen Faktoren sozialer, ökonomischer, ökologischer, kultureller und pädagogischer Art abhängig. Ausreichende oder mangelhafte Ernährung und Gesundheitspflege der Kinder, klimatische Bedingungen, Zwang zur Kinderarbeit oder Freiheit zum Lernen und Spielen, Dauer und Qualität von Betreuung und Schulbesuch, Einbeziehung der Kinder in die Erwachsenen-Welt oder Schaffung einer „pädagogischen Provinz“, familiäre Geborgenheit oder Alleingelassensein der Kinder in Armut, Sexualerziehung oder Sexualunterdrückung, wenn nicht gar sexuelle Ausbeutung – alle diese Faktoren fördern bzw. beeinträchtigen die Dauer von Kindheit und ihre „humane Qualität“. Kindheit kann sich ausleben, oder sie wird massiv beeinträchtigt. Auch gehen die verschiedenen Kulturen verschieden mit der Pubertät um. Der Eintritt der Pubertät kann die Fortsetzung der Kindheit in das Jugendalter bedeuten oder ihr Ende. Kindheitsforschung in einem so umfassenden zeitlichen und räumlichen Bereich wie den antiken Mittelmeerkulturen wird die jeweiligen konkreten historischen Gegebenheiten und Determinanten für Kindheit immer neu bestimmen müssen. Die Kinder der Erzväter wuchsen anders auf und wurden anders erwachsen als die Kinder in der Residenz der mykenischen Könige. Isaak hatte eine andere Kindheit als Iphigenie.

Dennoch gibt es Grundbestimmungen von Kindheit, die gerade unter Beachtung der vielfältigen, unterschiedlichen Kindheitsprofile in der Geschichte Gültigkeit haben. Sie sind anthropologischer Natur und ergeben sich aus der zunächst biologisch zu verstehenden Tatsache, dass der Mensch in völliger Hilflosigkeit in diese Welt eintritt und auf Eltern (oder Ersatzeltern) angewiesen ist, um überhaupt in das Leben hineinwachsen zu können. Mit dieser Gegebenheit unabweislich verbunden ist die Offenheit des Menschen in der frühesten und frühen Lebensphase für alles, was es zu erfahren gibt und prägend werden kann. Für sein zukünftiges Leben ist wichtig, was die Welt dem Kinde zu bieten vermag und wie ihm in der Welt das Lernen ermöglicht wird. Damit wird die kulturanthropologische Sichtweise in der Kindheitsforschung bedeutsam, und das methodologische Bewusstsein wird geschärft in Richtung auf das Verständnis konkreter Lebenswelten und auf die darin Lebenden, Kinder wie Erwachsene. Wir wollen wissen, wie sich kindliches Leben in jeweiligen Zeiten und Kulturen vollzogen hat.

In der Historiographie hat es aber seit jeher unterschiedliche Blickrichtungen und Fokussierungen auf Lebenswelten und damit zugleich auf kindliches Leben gegeben. Nicht immer waren und sind Hilfsbedürftigkeit und Offenheit des Kindes im Horizont des allgemeinen Verständnisses und der Forschung. In fundamentalistischen und autoritären sozialen und religiösen Ordnungen - es hat sie in allen Zeitaltern gegeben - wird von Verantwortlichen wie von Berichtenden eher wahrgenommen, wie weit Kinder noch nicht "durchgeprägt" sind. Man denke an die Koranschulen unserer Zeit.

Es ist somit ein Unterschied, ob man Hilfsbedürftigkeit und Offenheit des Kindes im Blick auf seine Prägbarkeit oder auf seine Entfaltungsmöglichkeiten hin wahrnimmt. Eine kindliche Wirklichkeit "an sich" ist nicht bestimmbar. Für unser heutiges Bewusstsein ist Aufmerksamkeit auf kindliche Entfaltung angemessen und richtig. Manchmal benutzen wir im Alltag den Begriff des "vollen Lebens" auch in Bezug auf Kinder, die sich entfalten können. Gemeint sind unter anderem "ganzheitliche", emotional und sensitiv bestimmte Qualitäten des Lebens, die in der betreffenden Lage der kindlichen Entfaltung zugute kommen und so zum Ausdruck eines Kindheitsverständnisses werden. Damit wird dann zugleich auch eine Blickrichtung der Kindheitsforschung akzentuiert. In den griechischen Artemis-Heiligtümern haben junge Mädchen zur Aulos-Musik fröhliche Tanzdarbietungen veranstaltet und - wie wir vermuten dürfen - unter den Klängen der Kithara die Überlieferungen von den Göttinnen aus der Heldenzeit erfahren.

2. Mentalitäten und Bewusstseinsstrukturen in historischen Epochen

Am Anfang einer Untersuchung steht die Quellenkritik, zugespitzt auf die Frage, ob aus den Texten oder materiellen Hinterlassenschaften eine Wirklichkeit ermittelt werden kann. In einem weiteren Abschnitt der Untersuchung geht es dann darum, empirisch und narrativ Geschehensausschnitte einer Zeit   u n d   deren Lebensgefüge möglichst bis in Details hinein zu erhellen. Ob man dabei bedrückende kindheitsrelevante Fakten nur streift oder ob man ausführlicher bei ihnen verweilt, kann in der angedeuteten Weise zu einer Frage des Standpunktes werden. Der Psychohistoriker Lloyd deMause ist ständig bemüht aufzuzeigen, wie die Kindheitsforschung in Jahrzehnten solche an sich offen liegenden Fakten immer wieder ignoriert hat.[1]

Von den ermittelten Fakten aus kann in einem neuen Arbeitsschritt dann versucht werden, den mehr hintergründigen psychosozialen Motiven der Menschen auf die Spur zu kommen, den Einstellungen, traditionsbedingten Handlungsmöglichkeiten und Urteilsweisen, ebenso den Fixierungen und Zwängen, alledem, was unter den Begriffen "Mentalität" bzw. "Mentalitäten", auch "Bewusstsein", zusammengefasst wird. Mentalitäten als bedeutsame psychosoziale Gegebenheiten scheinen aus den in ihrer Konkretheit erkannten historischen Lagen hervor. Es kann sein, dass bestimmte Handlungsweisen in einer Gruppe sozusagen zwingend auf deren mentale Struktur verweisen. Diese zu erforschen wird dann eine lohnende Aufgabe, auch im Hinblick auf ihre aktiven Träger oder Bewahrer, wie Familien-Oberhäupter. "Lebendige Bilder" aus der Lebenswirklichkeit, so wie wir sie unter Umständen erstellen können, gehen somit über vordergründige Rekonstruktionen des Kindeslebens hinaus und erhellen zugleich die Bewusstseinslage der für die Kinder und mit ihnen Handelnden, namentlich die Determinanten, denen sie unterliegen.

Die mentalen Bedingtheiten der Menschen in der historischen Lage sind in aller Regel eng mit der Religion, genauer: mit der religiösen Praxis in allen ihren Höhen und Tiefen verschränkt. Man kann hierbei von einem kulturanthropologischen Grundzusammenhang sprechen, der sui generis für die Kindheitsgeschichte wesentlich ist. Wenn die heranwachsende Generation im Prozess der Enkulturation zusammen mit den notwendigen Lern-Inhalten zur Existenzsicherung auch die erhöhenden religiösen Inhalte übernimmt, so kommen dabei zugleich mentale Strukturen und Verhaltenssteuerungen der erziehenden Generation zur Geltung. Der sonntägliche Kirchgang in einer nicht offenen Gesellschaft ist an vielfältige feste Regeln, selbst Attitüden des Verhaltens gebunden. Oder schauen wir auf die Erzählung von dem zwölfjährigen Jesus im Tempel, und zwar unter der Maxime der Plausibilität: ...sie gingen nach der Gewohnheit [des Passahfestes] hinauf [nach Jerusalem] (Lk 2,42). Dem Kinde muss - wenn wir den Verlauf der Geschichte bedenken - zu dem Zeitpunkt seiner Sozialisation bereits der Besuch im Tempel und das fromme Verhalten und Handeln darin selbstverständlich gewesen sein, und es muss ein erhebliches Bewusstsein besessen haben, auf der Basis einer bis dahin erfolgten religiös-kultischen Erziehung.

Manchmal gelingt es der Forschung, so weit in die "Vergangenheit einer Vergangenheit" zu schauen, dass Ursprungslagen deutlich werden, die Aufschluss über die Genese der - dem Wandel unterworfen gewesenen - religiösen und mentalen Linien und ihrer Verschränkungen geben. Man denke etwa an die Bedeutung des Erstgeborenen in der israelitischen Sozialgeschichte, oder an den ausdauernden, Jahrhunderte währenden Kinderopfer-Kult der Karthager, wie er an die Gottheiten Baal Hammon und Tanit fixiert war.

3. Der Blick auf das einzelne Kind und der Erkenntnis-Zusammenhang

Neben der "heranwachsenden Generation" in ihrer Gesamtheit ist es wichtig, dem einzelnen Kind in der Geschichte Aufmerksamkeit zu schenken. Die Quellen für Alte Geschichte lenken unsere Aufmerksamkeit öfter auf Einzelne. Jedes Kind wird - auch innerhalb einer bestimmten Kultur - in eine besondere, quasi einmalige sozialökonomische, kultisch-religiöse und persönlich-familiäre Lage hineingeboren mit Eltern oder Bezugspersonen, die bestimmte Formen der Sorge und Erziehung praktizieren und sich von eigentümlichen Bewusstseinsinhalten leiten lassen. Herren-Kinder wurden anders erzogen als Sklaven-Kinder.

Die Tatsache, dass jeder Mensch in einer einmaligen Konstellation von Lebensvoraussetzungen heranwächst, bedeutet natürlich nicht, dass sein Leben nicht zugleich von den allgemeinen, für seine Zeit und Kultur charakteristischen Bewusstseinsstrukturen und Urteilssystemen geprägt wird. Oft haben die Heranwachsenden kaum eine Wahl zu eigener Entscheidung, weil die das Leben bestimmenden Handlungssysteme und mentalen Muster in ihrem Umkreis stabil geworden sind. (Es sei denn, sie lebten gerade in der westlichen Welt des Jahres 1968 nach Christi Geburt.)

Bilder zum Kindesleben bei den Israeliten

Bildquellen zur Geschichte der Kindheit wie Skulpturen und Malereien sind für die alttestamentlichen Kulturen bis zur hellenistischen Zeit kaum bekannt. Die Völker des Alten Testamentes, namentlich die Israeliten, haben sich vor allem in ihren schriftlichen Zeugnissen manifestiert. Die Kindheitsforschung schöpft hier, wie in unserem Diskurs deutlich wird, in erheblichen Maße aus den Schriften des Alten Testamentes, und es sind noch längst nicht alle Aspekte ausformuliert.

Gelegentlich kommen in ägyptischen und babylonisch-assyrischen Darstellungen und Texten Bild-Hinweise zum Kindsleben in Israel vor, aber sie sind nach dem bisherigen Forschungsstand eher von ergänzender Bedeutung.

Zu erforschen wäre, ob es in den Synagogen aus späthellenistischer Zeit mit ihrem skulpturalen Schmuck und gegebenenfalls auch Mosaiken, z.B. in Tiberias, Chorazim, Kapernaum und Bethsaida kindheitsgeschichtlich relevante Hinweise gibt. - Die hellenistisch beeinflussten Kinderskulpturen aus dem Eschmun-Heiligtum in Sidon kommen in vorstehendem Beitrag ihrer Bedeutung entsprechend zur Geltung (siehe die Abbildungen 2 a,b,c).

Bilderlos sind die Israeliten auch in früher Zeit wohl nicht gewesen. Man denke an die Cherubim auf der Bundeslade (Ex 25,18ff) und im neuerrichteten Tempel zu Jerusalem (1Kön 6,23ff.).

In den Erzväter-Erzählungen kommen mehrfach einzelne Kinder und Heranwachsende mit ihren Eltern vor. Ein hervorragendes Beispiel ist Isaaks Kindheit Gen 21/22, darin eingeschlossen die Erzählung von der Vertreibung der Magd Hagar mit ihrem Sohn Ismael durch das Familienoberhaupt Abraham, den Vater Ismaels, sowie die Erzählung von Isaaks Opferung bzw. "Bindung". Da aber die Erzväter-Erzählungen über weite Strecken hin eine mythisch-symbolhafte, auf Bedeutungen hin angelegte Struktur haben, geben sie für kindheitsgeschichtliche, wie überhaupt für historiographische Nutzbarmachung methodologische Probleme auf. Auch müssen wir eine mehrschichtige, die Bedeutungen verändernde Überlieferungsgeschichte voraussetzen. Das Erzählte spielt in der Mittleren Bronzezeit, sagen wir: um 1500 v. Chr. Dann wurde die Erzählung Jahrhunderte lang mündlich und wahrscheinlich auch über nicht mehr bekannte Niederschriften weiter vermittelt, bis der Elohist gegen Ende des 9. Jahrhunderts v. Chr. einen der heutigen Fassung nahekommenden Text erstellte. Dieser aber hat möglicherweise in nachexilischer Zeit, um etwa 500 v. Chr., eine nochmalige Redaktion im Sinne der deuteronomistischen Theologie erfahren.[2] Was war mithin am Anfang wirklich? Wie war die Sozial- und Familienstruktur in der Erzväterzeit? War eine Vertreibung wie die von Hagar und Ismael wirklich möglich? Welches Bewusstsein hatten Abraham und Sara tatsächlich im Bezug auf ihre Kinder und Abhängigen? Und wie lebten sie den Alltag? Letztere Frage sei am Beispiel weiter verschärft.

Aus Gen 21,6-8 ist wohlbekannt, dass Gott der alten Frau Sara ein Lachen über ihre unerwartete Schwangerschaft bereitet hat. Diese Erzählung - als Letztfassung einer Überlieferung - greift wie andere Erzählungen in einen konkreten Alltag hinein. Aber sie öffnet dennoch kein direktes Fenster in die Lebenswirklichkeit im Sinne der Sozialforschung, weil sie nämlich von einem Irrealen handelt, im vorliegenden Falle von einer gynäkologischen Unmöglichkeit. Wir würden aber gerne wissen, worüber und wie die Erzväter bzw. diejenigen, die durch diese biblischen Gestalten verkörpert sind, im Alltag wirklich gelacht haben und wie sich ihre Fröhlichkeit bei Schwangerschaft und Geburt eines Kindes wirklich geäußert hat, über welche alltäglichen Kommunikationsformen und mittels welcher gestischen Signale sie sich verständigt und durch welche Attitüden sie Einvernehmen hergestellt haben, nicht zuletzt - wie sie ihre Kinder erzogen haben. Es verbleibt also zunächst bei Fragen. (Es sei auf ein jüngst erschienenes Buch von Jaques Le Goff über Das Lachen im Mittelalter hingewiesen[3], in der Absicht, um festzustellen, dass für dieses Zeitalter sozial- und mentalitätsgeschichtliche Quellen von einer Aussagekraft zur Verfügung stehen, von denen die alttestamentliche Forschung nur träumen kann.) Wir möchten ja gerne in das volle Leben hineinschauen und auch noch genau erfahren, wann es gewesen ist, um dann das Vorher und Nachher ähnlich differenziert zu entwickeln.

Auch in der griechischen Mythologie mit ihrer ausgeprägten symbolischen Struktur gibt es in größerer Zahl Geschichten mit namentlich genannten Kindern und Heranwachsenden. Die Kekrops-Sage zum Beispiel, die einen noch vormykenischen Hintergrund hat, handelt von einem König und Vater, der die blutigen Opfer abschafft und die Monogamie einsetzt. Von den drei Töchtern des Kekrops entzieht sich eine, nämlich Pandrosos, mit Erfolg dem sexuellen Erschrecktwerden, während sich die beiden anderen, Herse und Aglauros, nach Ansichtigwerden des schlangenförmigen Erichthonios die Akropolis hinabstürzen. - Nicht vorbeigehen können wir an der berühmtesten aller antiken Vater-Tochter-Überlieferungen, den Sagen um Iphigenie und Agamemnon. Iphigenie sollte bekanntlich von ihrem Vater einem in der Zeit üblichen Handlungszwang folgend der Göttin Artemis geopfert werden.

Die überlieferten griechischen Mythen provozieren wie die Erzväter-Erzählungen Fragen nach einem Faktenhintergrund und nach den tatsächlichen Lebensvoraussetzungen wie auch nach der Bewusstseinsstruktur der wirklichen Menschen in der Frühzeit. Denn hinter jedem Mythos kann eine vergangene Wirklichkeit gesucht werden. Die einzelnen, namentlich genannten Kinder kann es wirklich gegeben haben. Wichtig ist aber, dass in der mehrschichtigen Text- und Rezeptionsgeschichte der Mythen von Anbeginn an ein Moment der Verallgemeinerung liegt, und zwar auf Bedeutungen hin. Die zum Opfer bestimmt gewesenen Kinder Isaak und Iphigenie vertreten alle namentlich nicht bekannten, armen Opfer-Kinder, und sie verweisen uns jeweils in einen tatsächlichen Lebensumkreis innerhalb ihrer frühzeitlichen Kulturen. Denn ein Opfer betraf nicht nur das geopferte Kind und seine Eltern; es war immer das gesamte soziale Feld zusammen mit den das Geschehen erlebenden weiteren Kindern existentiell und mental betroffen. Man denke vergleichsweise an vorhandene Berichte darüber, wie Hexenverbrennungen im Mittelalter und in der Neuzeit die betroffenen Familien, die Nachbarschaft und das Quartier verstört haben. Das hat in der Antike sicher Entsprechungen gehabt. Isaak und Iphigenie stehen aber zugleich auch symbolisch für die Überwindung des Kinderopfer-Zwangs in ihrer Kultur, wie es aus der jeweiligen mythischen Überlieferung im Einzelnen herauslesbar ist und über die Personalität der Protagonisten hinausweist. Diese Bedeutung war vermutlich von Anbeginn an gegeben.

Gehen wir einmal unversehens in die fast ein Jahrtausend spätere, spätklassisch-frühhellenistische Epoche Griechenlands bzw. in die späte, nachexilische Epoche der alttestamentlichen Volksgruppen hinein. Die Menschen dieses, von den frühzeitlichen Mythen schon erheblich entfernten kulturellen Horizontes haben zwar nachweisbar auch noch in mythischen Vorstellungswelten gelebt, aber sie konnten gleichermaßen realistische Blicke auf Welt und Menschen richten, wie aus den Kunstwerken der Zeit zu ersehen ist. In griechischen Artemis-Heiligtümern dieser Zeit gibt es die bemerkenswerte Erscheinung, dass Eltern Votivskulpturen ihrer Kinder zum Dank für göttlichen Schutz oder gewährte Wohltat aufstellten[4]. Diese Bildwerke am Ausgang der klassischen Epoche haben lebendige und ausgesprochen naturalistische Züge, und sie lassen uns heutige Menschen, die an Photos und Dokumentarfilme gewohnt sind, direkt mit Kindern von damals in Beziehung treten. Es gibt auch steinerne Dokumente von ganzen Familien, die zum friedlichen Tier-Opfer (und Schlachtfest!) das Heiligtum aufgesucht haben. Das Besondere ist nun, dass die Votive, welche - deutlich erkennbar - wirkliche Kinder darstellen, keine ausschließlich griechische Erscheinung im engeren Sinne mehr waren. Analoge Kinder-Votive sind bisher auch aus dem phönizischen Eschmun-Heiligtum in Sidon bekannt geworden[5]. Es gibt die Votive dort seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. Im 4. Jahrhundert gewinnen sie, dem Bearbeiter R.A. Stucky zufolge, gräzisierende Eigenschaften, eben die naturalistischen Züge, so dass uns wiederum bestimmte Kinder begegnen, deren Bilder von ihren Eltern für die Nachwelt erhalten geblieben sind. Die Sinn-Deutung dieser Votive kann über die Personalität der Dargestellten hinaus auch hier Akzeptanz des Kindes herausstellen.

Abb. 2 a, b, c. Sidonische Kinder aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.
Aufnahmen durch Prof. Dr. Stucky, Basel

Sidon war wie auch weitere Städte in Phönizien ein eigenes Königtum. - Die erhalten gebliebenen Köpfe stammen von Marmorskulpturen, welche die Eltern im Eschmun-Heiligtum von Sidon als Votivgaben dargebracht haben. Die archäologischen Fundumstände, die Chronologie und Typologie der Kinderbildnisse sind auf der Basis von Vorarbeiten (M. Dunand, L. Ganzmann et al.) monographisch dargestellt von R.A. Stucky: Die Skulpturen aus dem Eschmun-Heiligtum in Sidon, in: Antike Kunst 17, Beiheft, 1993.

Bei der Deutung der Skulpturen halten wir bewusst, dass, literarischen Quellen zufolge, noch im Jahrhundert vorher in Phönizien Kinderopfer für Baal und Moloch verbreitet waren. In den Skulpturen tritt uns eine neue Gefühlswelt und Mentalität entgegen. Der jugendliche Gott Eschmun und seine ebenfalls in Sidon verehrte Partnerin Astarte verweisen zwingend auf positive Lebensformen, die - methodisch gesehen - aufgrund der reichhaltigen Quellenlage sogar szenischen Vergegenwärtigungen offen stehen. So wäre es denkbar, etwa das religiöse Leben im Heiligtum in einem Film darzustellen.

Die sidonischen Künstler erkennen humane und psychische Qualitäten wie Lebhaftigkeit und visuelle Kommunikation, auch Individualität und Freundlichkeit der Kinder, und sie setzen diese ausdrucksstark um. Sie bringen mit griechischen Stilmitteln ein kindbezogenes Bewusstsein zu starkem Ausdruck.

Die zahlreichen Kinderskulpturen aus Sidon reichen über ein langes Zeitalter griechischer und hellenistischer Prägung. Die Tatsache, dass die vorgestellten Bildnisse individuelle Züge tragen, führt im historischen und kunsthistorischen Kontext zu neuartigen kindheitsgeschichtlichen Erkenntnissen.

Im Hinblick auf die Stichhaltigkeit von Aussagen zum kindbezogenen Bewusstsein der Sidonier im angesprochenen Zeitraum bietet sich ergänzend der Hinweis auf einen Sachverhalt an, aus dem uns ein quasi analoges Bewusstsein entgegen scheint, nämlich auf die in diesem Zeitalter stattgefundenen intensiven Verurteilungen des Kinderopfer-Kultes durch die alttestamentlichen Propheten im benachbarten israelitischen Raum.

Sozusagen in der Mitte zwischen konkreten und allgemein formulierten kindheitsgeschichtlichen Erkenntnissen stehen idealtypische Darstellungen von Geschehensverläufen oder Lebenslagen. Nehmen wir als Beispiel die Blickrichtung der Forschung auf die Aufgabe oder Funktion der alttestamentlichen, älteren Weisheitsliteratur im Alltagsleben. Die Proverbien richten sich anspruchsvoll auf Lebensweise und Verhalten der Menschen auf dem Weg zum Guten. Unter kindheitsgeschichtlichem Aspekt wesentlich sind die im Text enthaltenen Ansprüche an Väter und Mütter hinsichtlich ihres Erzieherverhaltens. Um hier zu konkreten Erkenntnissen zu kommen, ist es zunächst wichtig, über Entstehung, Gesamt-Anlage und Datierung der Proverbien in ihrer Vielschichtigkeit Bescheid zu wissen - es sei unter anderem auf die Untersuchung von Jutta Hausmann[6] hingewiesen. Sodann würden wir gerne erfahren, in welcher Art die Weisheit konkret in der Familie und in Bildungseinrichtungen, so es sie denn gegeben hat, vermittelt worden sein könnte. Die Untersuchung von Jutta Hausmann konnte Wesentliches über die Rolle des Vaters in Familie und Gesellschaft deutlich machen. Auch formuliert die Autorin an mehreren Textstellen entlang vorsichtige Schlussfolgerungen über das tatsächliche Erzieher-Verhalten der Eltern in ihrem Lebensmilieu und über mögliche Erfolge und Misserfolge ihrer Erziehungsbemühungen. Wenn wir nun noch genaue Kenntnis des kulturellen Inventars einer Epoche hätten, in der die Weisheit zur Geltung gekommen ist, und wenn wir außerdem über die Umgangsformen der Menschen im einzelnen Bescheid wüssten, wäre auch eine Vergegenwärtigung vorstellbar in der Art von bildhaften Rekonstruktionen mit wörtlichen Reden auf der Grundlage der Bibeltexte. Filmemacher sind auf diesen Spuren.

Für die historische Forschung ergibt sich bei aller Unterschiedlichkeit der Quellen die doppelte Aufgabe, nach Möglichkeit einerseits konkrete, die Kinder betreffenden Momentaufnahmen oder sogar zusammenhängende Geschehnisse aus dem vollen Leben zu beschreiben, und andererseits Sachverhalte, Bewusstseinsstrukturen und Urteilssysteme in einer Gesellschaft auf der Ebene von Oberbegriffen zu formulieren. Die konkreten und die allgemeinen Erkenntnisse entwickeln sich im Forschungsprozess in wechselseitiger Abklärung.

4. Geschichte der Kindheit als interdisziplinäres Forschungsfeld

Die kindheitsgeschichtlichen Sachverhalte und Zusammenhänge sind, wie in unseren Überlegungen zunehmend deutlich wird, hochdifferenziert, und sie formieren sich in jeder Epoche und in jeder Gesellschaft neu. Bei ihrer Erforschung kommt - wissenschaftstheoretisch gesehen - ein mehrperspektivischer, interdisziplinärer Ansatz zum Tragen. Denn alle altertumswissenschaftlichen Disziplinen, die mit "Realien" in einem weiteren Sinne zu tun haben, leisten auch Beiträge zur historischen Kindheitsforschung. Nicht selten sind verschiedene Disziplinen gemeinsam mit e i n e m speziellen Themen-Komplex befasst.

Die genannten Beispiele des griechischen Artemis-Kultes und des karthagischen Kultes der Tanit und des Baal Hammon können zur Erläuterung herangezogen werden, wobei wir hier nur auf die kindheitsgeschichtlichen Seiten der betreffenden Heiligtümer fokussieren, nämlich in den Artemis-Heiligtümern die Förderung junger Mädchen, und im Kult für Tanit und Baal Hammon die Instrumentalisierung des Kindes. Bei der Erforschung dieser kindheitsgeschichtlich erheblichen Sachverhalte wirken archäologische, epigraphische, philologische und literarhistorische, religionsgeschichtliche und kunstgeschichtliche Quellenforschung zusammen. In Karthago haben zudem anthropologische Untersuchungen am Leichenbrand besonderes Gewicht. Es ergeben sich hierbei ständig Fragen in dem Sinne: Was haben die Griechen, was haben die Karthager mit ihren Kindern gemacht?

Eine weitere interdisziplinäre Perspektive der Kindheitsforschung liegt im komparativen Vorgehen, in der Auswertung von einander ähnlichen oder entsprechenden Erkenntnissen aus verschiedenen Kulturen und Epochen. Hierzu sei ein komplexer Zusammenhang beispielhaft skizziert.

Als Einstieg seien die kindheitsgeschichtlichen Sachverhalte bei den biblischen Völkern genommen. Hierzu liefert verständlicherweise die alttestamentliche Forschung entscheidende Informationen. Literarkritik und Überlieferungsgeschichte lassen sich auf die besonderen Fragenstellungen hin akzentuieren. Man denke an die Weisheitsliteratur im Hinblick auf Fragen der Familienerziehung. Und was speziell die kultischen und rituellen Realien anbetrifft, so wird es notwendig, neben der theologischen Sichtweise und Untersuchung, sei sie christlich oder rabbinisch, Fragen im Sinne der Vergleichenden Religionswissenschaft zu stellen. So kann namentlich der Kinderopfer-Brauch aus den biblischen Texten alleine nicht hinreichend erhellt werden. Diese Erscheinungen stehen vielmehr in einem Zusammenhang der vorderasiatischen und europäisch-antiken Religionsgeschichte, und sie hatten möglicherweise gemeinsame Ursprungsriten, wobei auch Kulte der Kybele, später der Mater Magna eine Rolle gespielt haben können. Denn Menschenopfer wurden auch von Priesterinnen dargebracht. Die vor ihrem Gestaltwandel menschenschlachtende, ansonsten selbst als Opfer bekannte Iphigenie im Dienst der taurischen Artemis weist uns medias in res.

Seit langem wird vermutet, dass es gemeinsame Ursprünge oder Zusammenhänge der verbreiteten taurischen oder Stier-Kulte wie auch Vernetzungen mit den Frauen-Kulten gibt[7]. Die Bibel enthält vage, alleine noch kaum verwertbare Hinweise auf den stiergestaltigen Baal. Erwähnt seien das Goldene Kalb vom Sinai und die "gegossenen Kälber" des Königs Jerobeam (Ex 32;1Kön 12,28-32). Ebenfalls halten wir uns der Tatsache bewusst, dass in der Bibel Kinderopfer dem Baal dargebracht wurden[8]. Der Baal Hammon in Karthago, der mit der Göttin Tanit verbunden ist, gehört direkt in diesen Zusammenhang. Auch der Minotauros auf Kreta bedarf der Erwähnung. Frauenkulte kommen ebenfalls in der Bibel vor, etwa der namentlich nicht genannte und höchst unklar überlieferte Kult, dem Jephtas Tochter vor der Opferung durch ihren Vater diente (Ri 11, 37-40)[9]. Mehrfach werden in der Bibel die Kulte für Aschera, die Frau des Baal genannt (u.a. 1Kön 15,13; 16,32-33; 2Kön 10,23-27; 21,2-7). Alle diese Hinweise betreffen eine in langen Epochen ausdifferenzierte Religionslandschaft mit Kulten, in denen oft Kinder eine Rolle spielen. Die diesbezüglichen Forschungen sind längst nicht abgeschlossen.

In den angedeuteten Zusammenhang sei nun ein weiterer Aspekt eingefügt. Denn Kindheitsgeschichte ist natürlich nicht nur eine Geschichte der Vereinnahmung des Kindes. Eine hervorragende interdisziplinäre Aufgabe liegt in der Herausarbeitung der "Eltern- und Kindesliebe", die, so eigenartig es auf den ersten Blick erscheinen mag, mit den Erscheinungen der Instrumentalisierung des Kindes verknüpft ist. Zur Eltern- und Kindesliebe können wir über den gesamten antiken Mittelmeer-Raum hin von der Frühzeit bis in die geschichtliche Zeit Hinweise und Fakten gewinnen. Bei Textquellen sind aber immer die Zeitpunkte ihrer Entstehung u n d Letztredaktion zu berücksichtigen, namentlich, wenn es sich um aus der Frühzeit überlieferte Nachrichten handelt. Mehrschichtige Quellen können auch mehrschichtige Informationen liefern.

In der Bibel ist an vielen Stellen von der Beziehung zwischen Eltern und Kindern die Rede, öfter in einer verhaltenen Art und Weise. Die Erzählung über Abraham und Isaak Gen 22,1-19, die auf das Kindesopfer hinzielt, ist mit kurzen, Passagen versehen, die auf eine intensive Vater-Sohn-Beziehung hinweisen. Es wäre aber verfehlt, hieraus von vornherein auf die mentale und väterliche Verfasstheit des der Erzählung zugrundeliegenden, bronzezeitlichen Abraham bzw. eines bronzezeitlichen Bewusstseins, das der Abraham-Verkörperung zugrunde liegen könnte, zu schließen. Es sind Informationen über die Vater-Sohn-Beziehung des 9. Jahrhunderts v. Chr., als der Elohist die Geschichte niederschrieb. Eine Ergebnisformulierung kann in die folgende Richtung gehen: Im 9. Jahrhundert war es dem Schreiber der Abraham-Erzählungen wichtig, die Vater-Sohn-Beziehung durch eine emotionale Komponente in den alltäglichen Lebensäußerungen zu kennzeichnen. (Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast…).

In der Tragödie Iphigenie in Aulis aus der Zeit Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. zeichnet Euripides den Heerführer Agamemnon ebenfalls als einen liebenden Vater, der durch die Umstände zu schlimmer Tat bestimmt wird. Aber auch Euripides liefert damit keinen Bericht über die mentale Verfasstheit eines Vaters und Heerführers aus der für ihn schon sieben Jahrhunderte zurückliegenden mykenischen Heldenzeit, sondern eine Projektion seines klassischen Zeitalters. Das ist natürlich auch eine historische Information. Um wirkliche Empfindungslagen der Frühzeit im Eltern-Kind-Verhältnis zu bestimmen, müssten wir einen neuen Zugang zu den Urquellen finden.

Bisher können wir also nur feststellen, dass es in h i s t o r i s c h e r Zeit emotionale Zuneigung in der Eltern-Kind-Beziehung gegeben hat (es kommen ja auch Mütter in den Texten vor, Sara und Klytaimnestra zum Beispiel). Ob frühzeitliche Väter wie Abraham und Agamemnon ihre Kinder geliebt haben, kann nur vermutet werden. Was wir aber von ihnen bzw. von denen, die durch sie verkörpert worden sind, wissen, ist, dass in ihrem Bewusstsein das Kinderopfer einen festen Platz hatte.

Es ist belegbar, dass der Kinderopfer-Brauch trotz der in Gen 22,1-9 festgehaltenen Überwindungsleistung von Abraham noch bis weit in die historische Zeit hinein Bestand gehabt hatte und demzufolge auch im Bewusstsein der Menschen existent war. In Beachtung dessen sei exemplarisch nochmals an die alttestamentliche Weisheit mit ihrer lebenspraktischen Bedeutung in Familie und Erziehung erinnert. Bei den Eltern, die aus den Proverbien schöpften, darf man mit hoher Evidenz voraussetzen, dass sie auch über die Kinderopfer-Kulte in ihrem Land informiert waren, wie sie von den kanaanäisch orientierten Einwohnern des Landes auf die israelitischen Einwohner übergriffen. Das heißt aber, dass es eine Synchronität gegenläufig erscheinender Bewusstseins-Inhalte in der Gesellschaft gab: Auf der einen Seite die Aktualität der Weisheitslehren, sicher verbunden mit Kindesliebe oder doch zumindest Kindesfürsorge, und auf der anderen Seite die religiöse Instrumentalisierung des kindlichen Lebens. Die Forschung steht damit vor einem sozialpsychologischen und kulturanthropologischen Fragenkomplex und einem interdisziplinären Erkenntnis- und Verständnisproblem erster Ordnung. Bei der Beschäftigung mit dem Alten Testament sind diese Fragen oft ausgeklammert geblieben, obwohl die Bedeutung der Thematik alleine daran erkennbar ist, dass es im Alten Testament über alle Textarten hin verteilt 31 Texte und Stellen zum Kinderopfer gibt[10], übrigens alle mit einer abweisenden bzw. verurteilenden Tendenz.

Hier sei auf einen seit längerem von verschiedenen Autoren vertretenen Argu-mentations-Komplex hingewiesen, demzufolge die Existenz von Kinderopfer-Kulten in der Alten Geschichte insgesamt geleugnet wird. Siehe hierzu den Literaturbericht im Anhang des vorliegenden Beitrages Zur Diskussion um die Evidenz der Kinderopfer-Überlieferung. Die betreffenden Argumentationslinien haben nach Auffassung des Referenten temporären Charakter.

Vielleicht haben wir es bei der angedeuteten Synchronität gegenläufig erscheinender kindheitsgeschichtlicher Gegebenheiten in dem komplexen Zusammenhang mit einer anthropologischen Dissonanz zu tun. Ein neuer interdisziplinärer Verständnis-Impuls kann von der psychohistorischen Betrachtungsweise kommen.

5. Besonderer Aspekt-Bereich: Die psychohistorische Forschung

Eine Durchsicht heutiger Forschungsaktivitäten in den historisch orientierten Humanwissenschaften lässt nämlich vermuten, dass in Zukunft auch die noch junge Forschungsrichtung der Psychohistorie Erkenntnisse zur Kindheitsgeschichte beitragen kann. Das gilt zunächst, aber nicht ausschließlich, für gesellschaftlich und religiös manifest gewordene Lebenslagen mentaler Entfremdung, Verirrung und Vereinseitigung, die sich auf die kindliche Entwicklung wie überhaupt auf das Leben Abhängiger niedergeschlagen haben.

Was zum Beispiel die Erzählung von Abraham und Isaak anbetrifft, so macht es unter dem psychohistorischen Gesichtspunkt keine Schwierigkeiten mehr, neben dem zu Anfang der Erzählung noch opferwilligen Vater den Blick auch auf die weiteren Menschen in der Geschichte zu richten, auf das betroffene Kind und seine zu Hause zurückgebliebene Mutter[11]. Ebenfalls kann man in Abrahams endlich erreichtem Familien- und Stammvater-Glück Verweise auf eine tatsächliche seelische Befindlichkeit finden, und zwar wiederum so, wie sie zur Zeit der endgültigen Fixierung des Textes verstanden wurde. Auch Nachrichten im Zusammenhang mit der Auslösung der Erstgeburt werden sicher durch Erhellung ihrer psychohistorischen Dimension einsichtiger. Nicht außer Acht gelassen werden kann die - offenbar mehrschichtige - Legende von der Tötung aller ägyptischen Erstgeburt durch Jahwe beim Exodus der Israeliten. Denn hier bricht vermutlich ein ursprünglich eigenes Problem des Volkes im Verhältnis zu seinen Kindern durch.

Es gibt im Alten Testament auch Beispiele der Missachtung und Instrumentalisierung des Kindes in verschiedenen Problemlagen der Erwachsenen unabhängig von seiner Vereinnahmung im religiösen Kult. Das Kind des Königs David aus seiner Verbindung mit der Frau des Uria muss nach dem Wort des Propheten Nathan sterben, weil der V a t e r den Herrn durch sein Tun verhöhnt hat (2Sam 11-12). Alle in entsprechender Weise von Kindern handelnden biblischen Stellen zusammen können den Anlass zu einer psychohistorischen Analyse des Kind-Verständnisses und des Eltern-Kind-Verhältnisses im Verlauf der israelitischen Geschichte geben.

Nehmen wir noch einen ganz anderen, fröhlichen Bibeltext für eine psychohistorische Betrachtungsweise, nämlich das Hohelied mit seiner der nachexilischen Zeit angehörigen Liebesdichtung: Die poetisch hoch entfalteten Lieder dieses biblischen Buches über die Beziehung zwischen Frau und Mann und über deren Schönheit können - so lautet die plausible Deutung - nur von Menschen verfasst worden sein, deren Bewusstsein durch eine positiv entfaltete sexuelle Sozialisation in der Kindheit bestimmt war. Zugleich haben die Verfasser bei den Adressaten ihrer Lieder dahingehende Einstellungen vorausgesetzt. Und wenn in das Hohelied möglicherweise Urquellen eingeflossen sind, so dürfen, zunächst thesenhaft und noch wenig differenziert, auch für deren Entstehungszeit positive Einstellungen zur Sexualität angenommen werden. Die Lieder-Dichter konnten das frohe Lebens-Bewusstsein sprachlich verständlich machen. Der psychohistorische Ansatz trägt somit nicht nur zum Verständnis der traurigen Lagen in der Geschichte bei. Dadurch können auch Lebenswelten erschlossen werden, in denen glückliche menschliche Befindlichkeiten verbreitet waren.

Die traurigen Lagen und problematischen Sachverhalte haben aber ihr eigenes, schweres Gewicht. Gleich in welchem Zeitalter und in welcher Kultur wir uns bewegen, das Kind war immer an Leib und Seele verletzbar[12]. Von Lloyd deMause stammt der inzwischen in zustimmender wie apologetischer Absicht viel zitierte Satz Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen[13].

6. Eine axiomatische Grundkategorie für das Kindheitsverständnis

Im kindheitsgeschichtlichen Diskurs ist auch bei ernsten und traurigen Sachverhalten die sachlich-logische Betrachtungsweise üblich und notwendig, unabhängig davon, dass der Forscher direkt Teilnahme am Schicksal von Kindern nimmt, denen das Lebensrecht beschnitten oder genommen wurde. Der traurig stimmende Umgang mit Kindern in bestimmten Zeiten und Kulturen führt uns antithetisch auf den Weg eines umfassenden positiven Kindheitsverständnisses und schärft den forschenden Blick für alle kindlichen Lebenslagen, seien sie traurig oder fröhlich. In dieser Grundposition kommt eine nicht hinterfragbare, sozusagen axiomatische Kategorie zur Geltung, nämlich das "Eigenrecht des Kindes". Daraus ableitbar ist dann die Kategorie "Wahrung des kindlichen Lebensrechtes", durch die das erkenntnisleitende Interesse in der Kindheitsforschung insgesamt erheblich präzisiert werden kann. Es scheint zunächst, als ob in den uns interessierenden Epochen und Kulturen seit der mittleren Bronzezeit ursprünglich das Eigenrecht des Kindes keine Bedeutung hatte und von daher eine Fortentwicklung des Kindheitsverständnisses anzunehmen ist.

Lloyd deMause hat in seiner psychogenen Geschichtstheorie thesenhaft einen Gesamtentwurf von auf das Kind bezogenen Gruppenphantasien im historischen Verlauf der bestentwickelten Länder vorgelegt[14]. Am Anfang stehe der, wie er formuliert, seit jeher praktizierte Kindsmord, dem in den nachchristlichen Jahrhunderten die Weglegung (die Aussetzung) des Kindes folge, woraufhin sich im Mittelalter Ambivalenz gegenüber dem Kinde herausbilde, die sich in der Neuzeit zur Intrusion fortentwickele (gemeint ist "Einmischung" in die kindliche Entwicklung), woraus dann Sozialisation (eine Form intentionaler Strenge) werde, bis unser Zeitalter schließlich zur Unterstützung des Kindes findet. Diese von Lloyd deMause entwickelten Kennzeichnungen historischer Gruppenphantasien können wir auch "weniger dramatisch" als Formen des Kindheitsverständnisses in der Geschichte verstehen und dabei die vom Autor vorgenommenen chronologischen Festlegungen relativieren. Denn es ist nicht ausgemacht, dass Lloyd deMause mit seinem Entwurf bündige Kapitel einer Kindheitsgeschichte seit dem Altertum gefunden hat. Und zudem halten wir bewusst, dass es vor den Erzvätern und vor den minoischen und mykenischen Palästen bereits eine Jahrhunderttausende währende Menschheitsentwicklung gegeben hat, in der, ethnologischen Parallelen zufolge, bestimmt auch Phasen natürlicher Wertschätzung und Achtung des Kindes vorgekommen sind. Jedenfalls aber sind die von deMause formulierten Kennzeichnungen sehr geeignet, das Kindheitsverständnis in der Geschichte im heuristischen Sinne zu spezifizieren und die ständig auftauchende Frage, ob und wie das "Eigenrecht des Kindes" im historischen Verlauf zur Geltung gekommen ist, inhaltlich und strukturell anzugehen.

An dieser Stelle unseres Diskurses ist ein Hinweis auf die Herrenworte angebracht (in der Übersetzung der Zürcher Bibel): Sehet zu, dass ihr keinen dieser Kleinen verachtet... (Mt 18,10) und Lasset die Kinder, und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen (Mt 19,14; entspr. Mk 10,14; Lk 18,16). Jesus fordert seine Mitmenschen auf, die Kinder in ihrer Kindlichkeit anzunehmen, und er segnet sie in ihrer Unmittelbarkeit auf das Himmelreich hin. Das sind die deutlichsten Sätze, die in jenem Zeitalter zur Akzeptanz und Achtung des Kindes gesprochen worden sind. ...dass ihr keinen dieser Kleinen verachtet, das kann für uns heute auch heißen, mit wissenschaftlichem Verstand das Eigenrecht des Kindes inhaltlich aus geschichtlichen Lagen heraus zu formulieren und für unsere Lebenswelt weiter zu entfalten. - Der Prozess der Theorie- und Kategorienbildung in Fach "Geschichte der Kindheit" ist noch keineswegs abgeschlossen.

Eine kindbezogene Grundposition für die Erörterung kindheitsgeschichtlicher Zusammenhänge hat auch Rüdiger Lux im Anschluss an Janusz Korczak herausgestellt, der drei Grundrechte des Kindes formuliert, nämlich 1. das Recht des Kindes auf seinen Tod, 2. das Recht des Kindes auf den heutigen Tag, 3. das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist[15].

7. Kindheitsgeschichtliche Zusammenhänge in Zeit und Raum

Das Erkenntnisinteresse der kindheitsgeschichtlichen Forschung realisiert sich nach allem Gesagten einerseits in Studien über konkrete Themen und Probleme bis hin zur Darstellung von Momentaufnahmen und Geschehensverläufen aus dem täglichen Leben, andererseits in historiographischen Arbeiten, welche die Ergebnisse konkreter Studien verallgemeinernd in einen Zusammenhang bringen. Verallgemeinernde Studien betreffen zum Beispiel "Das Familienleben der alttestamentlichen Völker in der Frühzeit" oder die "Bildungseinrichtungen im alten Israel".[16] Arbeiten mit solchen thematischen Ansprüchen umgreifen jeweils über einen größeren Zeitraum hin Sachverhalte in einer bestimmten Volksgruppe oder auch in einem mehr oder minder national umgrenzten Kulturkreis. Nun ist aber mehrfach deutlich geworden, dass die betreffenden Sachverhalte noch über die untersuchten Kulturkreise hinausweisen können. Dann wird es sinnvoll wenn nicht gar zwingend, die Ergebnisse der Disziplinen zu berücksichtigen, welche mit den weiteren mediterranen Kulturkreisen befasst sind.

In Verfolgung übergreifender Untersuchungen werden auch chorologische Erkenntnisse angestrebt, Darstellungen der V e r b r e i t u n g bestimmter gleichartiger oder einander entsprechender Phänomene in einem weiteren kulturgeo-graphischen Raum. Die notwendigen Einzel-Informationen ergeben sich aus ortsbezogenen Textquellen und örtlichen archäologischen Fundstellen. Man denke nur, wie aufschlussreich es ist zu wissen, wo es überall die genannten taurischen Kulte und Kulte von weiblichen Gottheiten gegeben hat. Von besonderem Interesse wäre die Verbreitung der Tophets, der Opferstätten für Baal und Aschera/Astarte im palästinensisch-syrischen Raume und darüber hinaus. Bei einer Differenzierung des chorologischen Aspektes sind die Einzel-Quellen nach den Unterschieden zwischen den Heiligtümern bestimmter Kulte und nach deren Chronologie zu befragen. Wo, in welcher Weise und wie lange haben Kulte im Sinne der taurischen Artemis bestanden, und wann mag es erstmals die rettenden Impulse aus dem Gestaltwandel dieser Göttin gegeben haben? Gibt es vielleicht Analogien zu dem rettenden "Abraham-Impuls", wie ihn der elohistische Schreiber im 9. Jahrhundert v. Chr. formuliert hat? - Als kulturübergreifend bedeutsam erscheinen auch die aus Artemis-Heiligtümern in Griechenland und aus dem Eschmun-Heiligtum in Sidon gewonnenen Erkenntnisse einer Wertschätzung u n d Achtung des Kindes vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis in spätklassische Zeit. Vielleicht kann die Forschung in Zukunft eine überregionale Karte der Verbreitung solcher Zeugnisse durch weitere Fundstellen ergänzen. Dass dann kindheitsgeschichtliche Verallgemeinerungen möglich werden, liegt auf der Hand. Einzubeziehen sind hierbei die deuteronomistisch redigierten prophetischen Texte, in denen sich scharfe Predigten gegen die Kinderopfer finden (Jes 57,4-7; Jer 7,30-33; 19,1-7; 32,34-35; Ez 16,17-21; 20,23-26; 20,30-31; 23,36-39; Mi 6,6-8 [siehe auch Anm.10]). Thesenhaft formuliert, ist im nachexilischen bzw. vorklassischen und klassischen Zeitalter in den antiken Mittelmeerkulturen ein kulturell übergreifender Horizont der Achtung des Kindes entstanden. Die eingeschlossene Frage ist dann, wie die Achtung des Kindes ihre Konsequenz in der Wahrung des kindlichen Eigenrechtes gefunden hat - soweit es jenes Zeitalter betrifft. Denn in den beiden folgenden Jahrtausenden bis heute ist in der Welt noch viel geschehen, was der Achtung des Kindes und der Wahrung des kindlichen Eigenrechtes einen allgemeinen Durchbruch versagt hat.

Literaturverzeichnis zu Kap. B

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C. Klassische und hellenistische Kinderbildnisse

Abb. 3 Die Familie opfert der Göttin Artemis. Zweite Hälfte 4. Jhd. v. Chr.
Marmor-Relief, Museum Brauron, Attika. Aufn. TAP-Service, Athen

Das Relief stellt eine Votivgabe dar, die von Athener Eltern im Artemis-Heiligtum von Brauron aufgestellt wurde. Ein Verständnis der Darstellung ergibt sich aus vielschichtigen, aufeinander bezogenen Sachverhalten, nämlich zunächst aus dem archäologischen Fundzusammenhang im Heiligtum (woraus sich ein Sinn- und Handlungszusammenhang der damaligen Zeit ergibt), sodann aus dem über das Heiligtum hinausweisenden mythologischen Zusammenhang des Artemis-Kultes (der im Gestaltwandel der Göttin zu einer fraulich-mütterlichen und die Kindheit fördernden Kraft koinzidiert), nicht zuletzt aus kunsthistorischen Stilmerkmalen der ausgehenden klassischen Epoche am Übergang zum Hellenismus (wozu ein nicht unbedeutender glyptischer Quellenbestand mit individualisierenden und szenisch "Alltags"themen zur vergleichsweisen Verfügung steht). Durch diesen komplexen inhaltlichen und methodischen Zugriff können konkrete, das damalige Leben spiegelnde Erkenntnisse, gewonnen werden, was hier allenfalls angedeutet werden kann.

Einige wesentliche Gegebenheiten im Bilde: Die gesamte Familie mit Bediensteten, die Mutter an erster Stelle in Kommunikation mit der Göttin, Kinder in der Familie (das Kind vor der Mutter im Vordergrund ist offenbar der Grund für ein Dankopfer), Magd mit Opfertier, Ausdrucksverhalten der Beteiligten (Gemessenheit, Hingabe, Gelassenheit, Sanftheit), ein "unaufmerksames", abgelenktes Kind unter den Erwachsenen … Insgesamt: Ein Spiegelbild familiärer und religiöser Sozialisation.

Um ein solches Geschehen für die Erinnerung festzuhalten, drücken wir heute mal eben auf den Auslöser der elektronischen Kamera. Wie lange hingegen mag der Bildhauer an diesem Marmorbilde gearbeitet haben?

Abb. 4 Junge Mädchen beim kultischen Dienst im Heiligtum der Artemis
von Brauron in Attika anlässlich einer Festveranstaltung zu Ehren der Göttin

Die umlaufenden Bilder befinden sich auf Opfergefäßen (Krateren), die vermutlich von den Festbesuchern benutzt worden sind. Erste Hälfte des 5. Jhd. v. Chr., Nachzeichnungen. Aus: Lilly Kahil: L'Artemis de Brauron: rites et Mystère, in: Antike Kunst, 20, 1977, Faltblatt nach S.86 (daselbst auch photographische Aufnahmen der Fragmente). Mit freundl. Genehmigung des Herausgebers.

Die Erklärung der Darstellungen kann wiederum auch auf schriftliche Quellen zurückgreifen. Das Artemisheiligtum war neben seiner kultischen Funktion eine Bildungsstätte für junge Mädchen. Ein Hauptinhalt ihres Lernens war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Einführung in die Überlieferung des Artemiskultes als Hintergrund für ihre zukünftige frauliche und mütterliche Identifikation in der Polis. (Ausführlich bei Lilly Kahil a.a.O.; Erstinformation bei Hoof 1999, S.222.ff. et pass.)

Die Darstellungen sind trotz der sparsamen Strichführung lebendige Momentaufnahmen der im kultischen Ablauf agierenden Kinder (arktoi, Bärentänzerinnen). Lilly Kahil hat die Szenerien im Einzelnen beschrieben und gedeutet. Einige Hinweise mögen hier genügen. Obere umlaufende Reihe von links: Eine Frau (möglicherweise eine Priesterin) hilft einem Mädchen, ihr Gewand zu richten, dahinter ein auf ein Ziel hin laufendes Mädchen, dann eine Frau, die den laufenden Mädchen mit einem Lorbeerzweig Zeichen gibt, in der Mitte eine Palme, weitere Mädchen, die auf den Altar der Segen stiftenden Göttin Artemis zulaufen. - Untere umlaufende Reihe: Ältere Mädchen, mit Kränzen in der Hand, ebenfalls auf den Artemis-Altar zulaufend. Ihre Nacktheit erinnert an das "Urgeschehen" der einstmals zur Opferung auf dem Altar bestimmt gewesenen Iphigenie. In der Mitte der Bär, der der Göttin heilig ist, im unteren Fries weitere der Göttin heilige Tiere.

Zur Sinndeutung: Die Darstellungen mit ihrem fröhlichen Geschehen repräsentieren eine Lebensstufe von athenischen Mädchen, die in das Frauenleben hineinwachsen.

Votivgaben aus dem Artemis-Heiligtum in Brauron / Attika
Aus der zweiten Hälfte des 4. Jhd. v. Chr. Museum Brauron

 
Abb. 5 a Knabe mit Ball
Marmor, Höhe um 70 cm
  Abb. 5 b Mädchen mit Kaninchen
(Ausschnitt) Marmor, Höhe 80 cm

Die beiden Skulpturen gehören zu einer großen Anzahl entsprechender Skulpturen, die von Eltern im Heiligtum aufgestellt wurden. Es können Dankopfer für bisheriges Wohlergehen der Kinder sein oder Votive als Bittgebete für ihr zukünftiges Wohlergehen, wenn es sich nicht gar um Erinnerungs-Votive für verstorbene Kinder handelt. Das Alter der beiden hier dargestellten Kinder wird um fünf bis sechs Jahre gewesen sein. Das Mädchen könnte auch als arktos (Bärentänzerin) im Dienst der Göttin gestanden haben.

Das Verständnis der Bildwerke erschließt sich auf dem Hintergrund der Geschichte des Artemis-Heiligtums als einer in langer Zeit gewachsenen Stätte der Kindesförderung. Einen Kontext bildet die künstlerische Gesamt-Entwicklung im spätklassischen Zeitalter, in dem der individuellen Auffassung des Menschen Raum gegeben wurde, zunächst bei berühmten Persönlichkeiten der Zeit und schließlich wie hier bei den Kindern. Es gibt solche Kinder-bildnisse auch aus anderen Artemis-Heiligtümern, so dass Verallgemeinerungen möglich werden.

Neben der Individualität des kindlichen Ausdrucks stellen wir auch eine "Abgeklärtheit" in den Gesichtern fest. Darin liegt wahrscheinlich eine weitere Komponente in der zeittypi-schen Auffassungsweise des Kindlichen - auf dem allgemeinen Hintergrund familiärer und emotionaler Akzeptanz der Kinder. Parallel zu den Skulpturen möge sich der Blick nochmals auf die Bewegungs-Darstellungen von Kindern in ihrer unbefangenen Fröhlichkeit richten, wie sie auf den brauronischen Opfergefäßen Abb. 4 dargestellt sind. (Der zeitliche Abstand von einigen Jahrzehnten fällt sicher nicht ins Gewicht, denn wir haben es mit zusammenhän-genden kulturellem Horizont zu tun.) Die angeführten Quellen können der Anlass dazu sein, nach weiteren Bild- und Textquellen über das erkennbar positive Kindheitsverständnis der Griechen zu suchen.

Abb. 6 Grabstele eines Mädchens aus Athen. Ende 4. Jhd. v. Chr.
Marmor, Höhe 71 cm
Staatl. Antikensammlung und Glyptothek München. Aufnahme des Museums

Die Darstellung zeigt Plangon, ein etwa vierjähriges Mädchen. Der vom Bildhauer eingefangene Ausdruck des Kindes und die Einzelheiten des Bildes verweisen den Betrachter auf Wesentliches, das im seinem kurzen Leben von Bedeutung war.

Plangon hält in der rechten Hand eine Puppe, in der linken einen Vogel und korrespondiert dabei mit der aufschauenden Gans. Die an der Wand hängenden Gegenstände sind wahrscheinlich ein Puppenkleid und ein Beutel mit Astragalen (d.s. Spielsteine aus Schafsknöcheln).

Griechische Grabdenkmäler mit ihren Darstellungen und Inschriften sind seit langem Objekte intensiver Erforschung und ausführlicher Beschreibung. Dadurch wurden vielfältige kulturgeschichtliche und mentalitätsgeschichtliche Erkenntnisbereiche erschlossen, nicht zuletzt in der griechischen Kindheitsgeschichte, öfter bis in konkrete alltägliche Lebensformen hinein.

Abb. 7 Das blinde Kind aus dem Heiligtum der Artemis in Brauron / Attika
Bildausschnitt aus dem noch erhaltenen Kopf einer Skulptur
Marmor, Höhe des Kopfes noch 17 cm. Museum Brauron

Die Skulptur war eine Weihegabe oder ein Dankopfer von Eltern an die Göttin Artemis. Das dargestellte Kind könnte verstorben sein, oder es hat im Kreise der sehenden Kinder als arktos (Bärentänzerin) Dienst um Heiligtum der Göttin getan, und es hat die damit verbundene Bildungsstufe durchlaufen. Im letzteren Falle handelt es sich um eine Votiv-Figur, die als Dank der Eltern an die Göttin verstanden werden kann. (Siehe auch oben Abb. 5 und Abb. 6 b.)

Die Blindheit findet ihren plastischen Ausdruck in den eingefallenen Augäpfeln, die keine Verbindung mit der Außenwelt haben, und in den herabgefallenen Wimpern. Man achte weiter auf den "vibrierenden", schweigende Geduld offenbarenden Mund des Kindes, Merkmale, die bisher noch nie ein griechischer Bildhauer bei einem Kinde ins Bild gesetzt hat. (Auf die Darstellung des vollständigen Kopfes mit hoher Frisur und Diadem [Stephane] ist mit Absicht verzichtet.)

Da der Sinnzusammenhang von Kinderskulpturen in Artemis-Heiligtümern im allgemeinen und in Brauron im besonderen bekannt ist, und namentlich die Gesichtspunkte der kindlichen Bildung, der Akzeptanz und Pflege des Kindes in der griechischen Kindheitsgeschichte herausgearbeitet werden konnten, fällt es nicht schwer, in dieser Skulptur einen besonderen, hervorragenden Akzent der Achtung und Pflege des Kindes zu erkennen.

Semni Papaspyridi-Karouzou hat dem blinden Kind von Brauron bereits 1957 eine ausführliche und liebevolle Studie gewidmet (in Griechisch; Erstinformationen bei Hoof 1999). Auch sonst hat das Bildnis bereits mehrfach teilnehmende Beachtung gefunden. Im archäologischen Nationalmuseum Athen wird eine Replik angeboten.

Abb. 8 Liegender Eros in Kindesgestalt. Erste Hälfte des 1. Jhd. n. Chr.
Marmor, Länge 93 cm. Aus dem Handel in Rom
Residenzmuseum (Antiquarium) München. Aufnahme des Museums

Die Literatur über die geflügelten Symbol-Figuren ist - auch auf Grund der sehr reichlich vorhandenen Quellen - umfangreich. Vorstehende Ausführungen verstehen sich als Erstinformation. Es gibt einen weitreichenden Zusammenhang von (meistens) geflügelten Wesen in Menschengestalt, der vom Alten und Neuen Testament und die klassische Antike über das hellenistische Griechenland und die römische Kultur durch das Mittelalter und die Neuzeit hindurch bis in unsere Gegenwart reicht. Zu den geflügelten Wesen gehören die "heidnischen", auf den Gott Eros (Amor) zurückgehenden Eroten (Amorinis, Amoretten) und die in vielerlei Gestalt auftretenden christlichen Engel (auch Engelein und Putten).

In früher Zeit wurden die Geflügelten, griechische Eroten ebenso wie christliche Engel, als junge Männer dargestellt. Die Eroten kommen seit dem Hellenismus auch in Kindesgestalt vor, und die christlichen Engel treten seit dem ausgehenden Mittelalter ebenfalls in großer Zahl als Kinder in Erscheinung, und zwar als Knaben ebenso wie - später auch - als Mädchen. Die Kinderengel können auch kindlichen Gestus mit dem Ausdruck von Erwachsenen verbinden und dadurch eine ursprüngliche Weisheit ausstrahlen.

Die Tatsache, dass die in unserem Kulturkreis die so bedeutsamen Symbolgestalten wie antike Eroten und später die Engel in Kindesgestalt auftreten, hat erhebliche Bedeutung für ein prinzipiell positives Kindheitsverständnis in den jeweiligen Zeitepochen. Die Menschen haben sich mental mit den Kindern identifiziert und folglich kindliche Menschlichkeit von ihrem Wesen her akzeptiert. Zweifellos aber können wir im Anschluss an den Psychohistoriker Lloyd de Mause trotzdem auch eine Linie des kindlichen Leidens durch die Geschichte verfolgen.

Die geflügelten Kind-Wesen vermögen im kindheits- und erziehungsgeschichtlichen Diskurs innerhalb ihres Kulturbereichs von Fall zu Fall Interpretations- und Deutungskomponenten beizusteuern, nicht nur auf der Meta-Ebene, sondern unter Umständen auch für konkrete Bereiche des zu erforschenden kindlichen Lebens-Alltags. So gibt es aus hellenistischer Zeit Belege, dass solche Tonfiguren im Wohnraum aufgehängt wurden. Und auf antiken Steinsarkophagen kommen Eroten mehrfach vor, als Bestandteile der ins Bild gesetzten Lebens-Sinn-Deutungen.

***

Werke der Bildenden Kunst in Griechenland als Quellen
für Alltagsgeschichte, im Besonderen für Kindheitsgeschichte

Die hier vorgestellten Kinder-Skulpturen sind mit Grund-Informationen und Literatur veröffentlicht in: D. Hoof, Opfer - Engel - Menschenkind, Studien zum Kindheitsverständnis in Altertum und früher Neuzeit, 1999. Im Einzelfall wichtige Arbeiten sind auch bei den obigen Bildern aufgeführt.

An den - exemplarisch zu verstehenden - Bildnissen wird deutlich, dass die griechische Glyptik durch ihre vielfältigen Themen einen bedeutsamen, in konkrete kindliche Lebenslagen reichenden Erkenntnisbereich erschlossen hat. Weit fortgeschritten ist der Wissensstand für die Epochen der Klassik und des Hellenismus. Entsprechendes gilt im Übrigen auch für die griechische Vasenmalerei. Dieser Quellen-Komplex in seiner Weite und Vielfältigkeit erschließt sogar noch vielfältige weitere Alltagsbereiche in ihrer Konkretheit. Ausführliche Berücksichtigung hat diese Quellengattung gefunden bei Hilde Rühfel, Kinderleben im klassischen Athen. Bilder auf klassischen Vasen (Kulturgeschichte der antiken Welt 19), Mainz 1984, sowie in weiteren einschlägigen Arbeiten der Autorin. Oft können auch die gegenständlichen Quellen durch - manchmal reichhaltige - Textquellen kontextuell ergänzt werden.

Kindheitsgeschichtliche Erkenntnisse bei den Werken der Bildenden Kunst ergeben sich aus typologischen Fragen (Gegenstandsfeld, Darstellungsweise), und empirischen Feststellungen (Vorkommen, archäologischer Fundzusammenhang, Chronologie, Verbreitung eines Bild-Typus, Funktion von Bildwerken im sozialen Zusammenhang). Hiervon ausgehend sind Aussagen des Verstehens möglich, namentlich auf der Ebene humanistischer Sinngebung mit ihren mannigfaltigen Akzenten der Akzeptanz des Kindes in der griechischen Gesellschaft.

Ein so liebenswürdiges Werk wie das oben vorgestellte Grabbildnis der Plangon lässt uns noch bald zweieinhalb Jahrtausende später die Trauer ihrer Familie miterleben. - In diesem Zusammenhang sei auch hingewiesen auf eine inhaltlich dichte wie empfindungsreiche Studie von Ernst Buschor "Grab eines attischen Mädchen" aus dem Jahre 1939 (bei Bruckmann, München). Der Verfasser, ausführlich mit dem kulturellen Inventar der klassischen Zeit vertraut, deutet ein durch seine Beigaben - kultische Gefäße und Spielzeug - reiches Kindergrab, indem er die Verstorbene konkret in ihre Lebens- und Alltagslage zurückversetzt. Hierbei bezieht er bekannte, ausdrucksstarke Vasenbilder mit kommunikativen und existentiellen Lebens-Situationen in den Diskurs mit ein. Der zum "Feierlichen" neigende Sprach-Duktus des Verfassers vermittelt dem Leser sicher auch humanistische Aspekte des Kindheitsverständnisses in jenem Zeitalter.

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Nicht alle mediterranen Kulturen haben neben aussagefähigen schriftlichen Quellen auch Bildquellen zur Kulturgeschichte im Allgemeinen und zur Kindheitsgeschichte im Besonderen so reichhaltig und ausdrucksstark hinterlassen wie Griechenland. Für die ägyptische Kindheitsgeschichte hinwiederum gibt es vielfältige informative Bildquellen, wie Erika Feucht ausführlich in ihren Arbeiten aufzeigt (E. Feucht, Kinderarbeit und Erziehung im Alten Ägypten, in A. Kuntz-Lübcke /R. Lux, "Schaffe mir Kinder ..." [s.o.], S. 89 ff.).

Das antike Zeitalter hatte viele Facetten des Kindheitsverständnisses. Hier sei nochmals darauf verwiesen, dass in Karthago noch zur klassischen Zeit Griechenlands und zur nachexilischen Zeit Israels das religiös motivierte Kinderopfer massiv ausgeübt wurde. Nachfolgende Ausführungen wollen möglichen Verdrängungs-Tendenzen entgegenwirken.

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D. Zur Diskussion um die Evidenz der Kinderopfer-Überlieferung

Der folgende Literaturbericht über die Kinderopfer-Kulte bei den Kanaanäern bzw. Phöniziern, Karthagern, Israeliten und Griechen ist veranlasst durch eine derzeitige Diskussion um die Wahrheit der Überlieferungen, die sich insbesondere an Karthago entzündet hat. Ob die angeführten kritischen Positionen und Wortmeldungen das Problemfeld erfassen, möge der Leser entscheiden.

Die erhebliche archäologische und literarhistorische Literatur älterer, neuerer und neuester Zeit über Karthago und die weiteren karthagischen Orte lässt nach überwiegender wissenschaftlicher Auffassung keinen Zweifel an der Faktizität der Kinderopfer-Kulte. Zur Information und wegen weiterführender Bibliographien siehe u.a. Mosca 1975, Kaiser 1978, Pedley 1980 (darin von Humphrey bibliographische Nachweise über neuerliche Untersuchungskampagnen), Stager 1980, Hoof 1999.

 

Abb. 9 a, b Grabstele (obere Hälfte) aus dem Kindergräberfeld
im Tophet (Kinderopfer-Stätte) von Karthago.
Periode Tanit II (4. Jhd. v. Chr.). Höhe des Bildes auf der Stele um 40 cm,
mit Ausschnitt des Bildes. Aufnahme Museé du Bardo, Tunis

Auf Abb. 9 a, b ist ein Priester dargestellt, der ein zu opferndes Kind auf dem Arm trägt. Bedeutungsvoll ist insbesondere, dass es sich ganz offensichtlich um ein (noch) lebendes Kind handelt, nicht um eine Totgeburt oder ein früh verstorbenes Kind, wie derzeit gelegentlich in tendenziöser Absicht über die Bestattungen im Tophet von Tunis behauptet wird. Ansonsten sind bisher keine Abbildungen von Opferszenen in karthagischen Tophets bekannt. Die Darstellung hat - in Verbindung mit den Ergebnissen der weiteren archäologischen Untersuchungen im Tophet - hohe Evidenz. (Ausführlich mit weiterführender Literatur bei Hoof 1999, S.31 ff.)

Um möglichst konkret in eine vergangene Wirklichkeit hinein leuchten zu können, lassen sich Bildquellen öfter zu literarischen Quellen in Beziehung setzen. Im Zusammenhang der karthagischen Grabstele aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. sei auf eine Textstelle von Plutarch aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert (Moralia, de superstitione, 171 D) hingewiesen (die, unter anderem wegen des großen zeitlichen Abstandes zwischen den beiden Quellen) einer literarkritischen Einschätzung bedarf):
Sie opferten ihre eigenen Kinder. Die Kinderlosen aber opferten solche, die sie wie Lämmer oder Vögel von den Armen gekauft hatten. Die Mutter stand dabei ohne Rührung und Klage; und wenn sie klagte und weinte, so musste sie den Kaufpreis wieder hergeben, und das Kind wurde trotzdem geopfert. Der ganze Platz vor dem Bilde füllte sich mit Händeklatschen, da die Flöte gespielt und die Pauken geschlagen wurden, damit man das Schreien nicht hören konnte.

Dennoch wird die Tatsache des Kinderopfer-Kultes in Karthago unter Umdeutung der antiken Schriftquellen und der archäologischen Befunde bestritten. Namentlich die Römer hätten die Kinderopfer nur erfunden, um ihre Feinde, die Karthager, in schlechtem Licht erscheinen zu lassen. Wortführer einer Ableugnung der Kinderopfer-Kulte ist der in der Karthago-Rezeption aktive Sabatino Moscati u.a. 1987; 1991. Neuerlich bringt M'hamed Hassine Fantar, Universität Tunis, eine entschiedene Gegenposition zum Verständnis des Kinderopfer-Kultes zur Geltung, zugespitzt auf die Behauptung, die in den Tophets der karthagischen Welt - sehr zahlreich - bestatteten Kinder seien Fehlgeburten und Frühverstorbene gewesen, die auf diese Weise - Jahrhunderte lang - der Gottheit zurückgegeben worden seien. Zur Verteidigung seiner Position hat sich Fantar unter anderem jüngst (2004) im Internet innerhalb der Encyclopedia Phoeniciana einer kontroversen Diskussion mit den Forschern Stager und Greene gestellt und sich auch gesondert im Internet geäußert. (Alle genannten Internet-Quellen siehe im nachfolgenden Literatur-Verzeichnis.)

Entsprechend wie Fantar äußert sich auch Fethi Chelbi, Nationalmuseum Karthago in Tunis, gegen die Existenz von Kinderopfer-Kulten bei den Karthagern, zuletzt in der ZDF-Sendung wissen & entdecken vom 19. 8. 2004, nachlesbar in der Internet-Fassung.

Tore Kjeilen, Herausgeber der elektronischen Encyclopaedia of the Orient, sagt im Rahmen einer touristischen Mitteilung Carthage Tophet with child sacrifice (ebenfalls im Internet) ironisierend über die Negierung des Kinderopferkultes: ... This could have been one of the greatest Carthagian sites, has been left without any funds from the Tunesian government. The reason for this neglect is rather obvious: As Tunesia exhibits its early civilisations, contemporary barbary will dilute the image.

Über Kinderopfer-Kulte im kanaanäischen Bereich sind wir überwiegend durch schriftliche Quellen informiert. Besondere Aufmerksamkeit hat seit jeher die Überlieferung von der Opferung bzw. Bindung Isaaks durch Abraham gefunden. In den kanaanäischen bzw. phönizischen Kinderopfer-Kulten liegen bekanntlich auch die Ursprünge der karthagischen Kinderopfer-Kulte.

Zur Information über Kinderopfer bei den Kanaanäern und Israeliten und wegen weiterführender Bibliographien siehe u.a. Buber 1932/1964, Day 1948, Kaiser 1976 und 2003, Westermann 1981, Bergmann 1992, Hoof 1999, Michel 2003. Siehe auch den Beitrag von Michel im o.gen. Tagungsband von 2005: Kuntz-Lübcke / Lux (Hrg.), Schaffe mir Kinder...

Auch für den kanaanäisch-israelitischen Bereich ist das Bestehen von Kinderopfer-Kulten bestritten worden. Weinfeld (1972, insbes. S.141) hat die in den alttestamentlichen Textstellen mehrfach vorkommende Formulierung: ... den Sohn/die Tochter durchs Feuer gehen lassen (Zusammenstellung bei Hoof 1999, 92f.) entgegen der anerkannten Auffassung als Mitteilung über die Opferung von Kindern als Weihe-Ritus verstanden und damit andere Autoren, unter anderen Smith (1975, 477ff.) und Kaiser (1976, 37) zum Widerspruch herausgefordert. Weinfelds Replik auf Smith (Weinfeld 1978, 411ff.) bringt keine neuen Gesichtspunkte. Buber (1964, 597ff.) hatte die These vom Weihe-Ritus schon früher verworfen. Fantar in Tunis greift diese These jedoch auf, um zu belegen, dass es nicht nur in Karthago keine Kinderopfer gegeben habe, sondern von Anfang an weder im phönizischen Ursprungsland noch bei den Kanaanäern und Israeliten (im angeführten Internet-Beitrag contra Stager / Greene). - Stucky (1993, 58f.), Bearbeiter des Inventars aus dem Eschmun-Heiligtum in Sidon, stellt den Kinderopfer-Kult ebenfalls in Frage; er ist jedoch weniger mit den diesbezüglichen Quellen befasst als mit den bedeutenden, vom Kinderopfer-Kult denkbar weit entfernten sidonischen Kinder-Skulpturen.

Die umfassende Studie von Mosca (1975, nur als Harvard University Thesis, Cambridge Mass., greifbar) stellt eine Gesamt-Aufarbeitung der Kinderopfer-Problematik in der kanaanäisch-phönizischen und der israelitischen Religion dar. Der Verfasser entwickelt zunächst in denkbarer Vollständigkeit der Testimonien die klassische Evidenz für das Kinderopfer, um sodann ausführlich die archäologische und anthropologische (medical) sowie die epigraphische Evidenz für die karthagischen Kinderopfer-Kultstätten darzulegen. Dem Kinderopfer im Alten Testament ist ein umfangreiches und auf Vollständigkeit der Text-stellen einschließlich ergänzender Quellen bedachtes Kapitel gewidmet. - Siehe des weiteren Day 1989 und Bergmann 1992.

Eine die biblische Überlieferung wie auch die antiken Autoren und den archäologischen Befund in Karthago kritisch befragende Position nimmt Rüterswörden 2003 ein. Der Verfasser liefert eine dezidierte text- und literarkritische Einteilung und Analyse der einschlägigen Bibelstellen und ist bemüht, fragliche Stellen in der Evidenz-Erörterung über den Kinderopfer-Kult zu markieren. Mit neueren, weiterführenden Literaturangaben.

Zur Problematik der Menschenopfer in Griechenland können die Arbeiten von Burkert, insbesondere Homo necans, 1972, nicht übersehen werden. Burkert entfaltet ins Einzelne gehend die historisch-anthropologische Dimension von Opfern und Ersatzopfern sowie von Kindestötungen. Hingewiesen sei auch auf eine Rezension von Burkert über eine monographische Studie von Hughes über Human Sacrifice in Ancient Greece, 1994. Hughes bekräftigt den bekannten Sachverhalt, dass die frühzeitlichen Menschenopfer in Griechenland im wesentlichen aus den antiken Schriftquellen bekannt bzw. erschließbar sind. Burkert referiert die von Hughes ausgebreiteten Sachverhalte und äußert sich - darüber hinausgehend - über die Semantik im Umgang mit dem Thema, wie auch über aktuelle Kontroversen bis hin zu dem Autor P. Hassler, der sogar die Menschenopfer bei den Azteken bestreitet.

In einem komplexen, über Griechenland hinausweisenden Zusammenhang steht die Überlieferung des Iphigenien-Opfers. Die literarkritische und religionsgeschichtliche Bearbeitung der vielfältigen Quellen im Artemis- und Mater-Magna-Umkreis erschließt einen weiten Horizont des frühzeitlichen Menschen-Opfer-Kultes, im besonderen des Kinderopfer-Kultes. Wegen der Kult-Orte und Quellen siehe Iphigeneia in Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft; neuere Arbeiten siehe in Der kleine Pauly. Zur Einführung Hoof 1999, 155 ff. (Mythologische Nachrichten im Umkreis des Iphigenien-Opfers).

Einen in mehrfacher Hinsicht problematischen Beitrag zur Evidenz der Überlieferung des Kinderopfer-Kultes hat Hartwig Weber 2003 mit seiner Betrachtung "Das Kinderopfer im Alten Testament und im Christentum" geliefert. (Weber ist Professor für Evangelische Theologie / Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.) Schon die Formulierung in diesem Titel Das Kinderopfer ... im Christentum ist eine Irreführung. In Form eines sprachlich und begrifflich versierten Rundumschlages gegen alle historischen literarischen Quellen - auch die griechische Welt ist einbezogen - und gegen die archäologischen Untersuchungs-Ergebnisse in Karthago sowie gegen alle einschlägigen alttestamentlichen Textstellen wird die Faktizität des Kinderopfer-Kultes in der Geschichte generell bestritten. Der Beitrag gipfelt in pseudo-psychohistorischen Aussagen wie solchen, dass die sich regende Moral der Menschen sich in den Mythen des Kinderopfers Entlastung verschafft habe und dass die Vorstellung kannibalischer Gottheiten ... der Preis der Moral sei (S. 210). - Referent hat den Eindruck, dass der Autor durch die Thematik insgesamt in eine Verfassung des Leidens geraten ist, was ihn von der wissenschaftlichen Solidität weggeführt hat.

Literaturverzeichnis zu Kap. D

(Die im vorstehenden Kapitel "Zur Diskussion um die Evidenz der Kinder-Opfer-Überlieferung" genannten Arbeiten und solche zur Weiterführung)

Bergmann, M. S., In the Shadow of Moloch. The sacrifice of children and its impact on Western religions, New York 1992 (psychoanalytisch orientierte Studie mit ausführlicher Bibliographie)
Buber, M., Königtum Gottes (Werke II: Schriften zur Bibel, 485ff.), München / Heidelberg 1964 (1. Aufl. 1932)
Burkert, W., Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin / New York 1972
Burkert, W., Rezension zu D.D. Hughes: Human Sacrifice in Ancient Greece, London / New York, 1991, Gnomon 66, 1994, 97-100
Chelbi, Fethi (Nationalmuseum Karthago in Tunis), "... über die Kinderopfer der Karthager". In der ZDF-Sendung "Karthago muss untergehen" ZDF Expedition vom 19.08.04. http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/21/0,1872,2071829,00.html
Day, J., Molech. A god of human sacrifice in the Old Testament, Cambridge 1989 (Quellen-Studie, mit Berücksichtigung der auf Phönizien und Karthago bezogenen Quellen; ausführliche Bibliographie)
Fantar, M'hamed Hassine / Stager, L.E. / Greene, J.A., Child Sacrifice: Were living children sacrificed to the gods of Punic Carthage? 2004. (Kontroverse Diskussion zwischen Fantar und Stager / Greene; aus der "Encyclopedia Phoeniciana") http://phoenicia.org/childsacrifice.html
Hassler, P., Menschenopfer bei den Azteken? Bern 1992
Hoof, D., Opfer - Engel - Menschenkind. Studien zum Kindheitsverständnis in Altertum und früher Neuzeit, Bochum 1999
Humphrey, J. H., Bibliography of the International Campaign to Save Carthage. In: J.G. Pedley (Hg.), New Light on Ancient Charthage, Michigan 1980, 123-127
Kaiser, O., Den Erstgeborenen deiner Söhne sollst du mir geben. Erwägungen zum Kinderopfer im Alten Testament, in: Kaiser, O. (Hg.): Denkender Glaube. Festschrift für Carl Heinz Ratschow, Berlin / New York 1976, 24ff.
Kaiser, O., Salammbo, Moloch und das Tophet. Erwägungen zum Kinderopfer der Karthager, Die Karawane 19, H. 1/2, 1978, 3ff.; 130ff.
Kaiser, O., Die Bindung Isaaks. Untersuchungen zur Eigenart und Bedeutung von Genesis 22, in: ders., Zwischen Athen und Jerusalem. Studien zur griechischen und biblischen Theologie, ihrer Eigenart und ihrem Verhältnis, Beihefte z. Zeitscht. f. d. alttestamentl. Wissenschaft 320, Berlin / New York 2003, 199-224
Kjeilen, T., Carthage Tophet with child sacrifice (touristische Mitteilung) http://I-cias.com/tunisia/carthage02.htm
Michel, A., Gott und Gewalt gegen Kinder im Alten Testament, Forschungen zum Alten Testament Bd. 37, Tübingen 2003 (mit neueren, weiterführenden Literaturangaben)
Mosca, P. G., Child Sacrifice in Canaanite and Israelite Religion. A study in Mulk and מלך, Phil. Diss. Cambridge, Mass. 1975
Moscati, S., Il sacrificio punico dei fanciulli: Realtà o invenzione? Accademia Nazionale dei Lincei, Heft 261, Rom 1987
Moscati, S. / Ribichini, S., Il sacrificio dei bambini: Un aggiornamento. Accademia Nazionale dei Lincei, H. 266, Rom 1991
Pedley, J. G. (Hg.), New Light on Ancient Carthage, Michigan 1980
Rüterswörden, U., Die Stellung der Deuteronomisten zum alttestamentlichen Dämonenwesen, in: A. Lange / H. Lichtenberger / K.F.D. Römheld (Hg.), Die Dämonen. Die Dämonologie der israeli-tisch-jüdischen Literatur im Kontext ihrer Umwelt, Tübingen 2003, 197-210
Smith, M., A Note on Burning Babies, in: Journal of the American Oriental Society 95, 1972, 477ff. (Entgegnung auf M. Weinfeld, in: Ugarit-Forschungen 4, 1972, 133ff.)
Stager, L. E., The Rite of Child Sacrifice at Carthage. In: J.G. Pedley (Hg.), New Light on Ancient Carthage, Michigan 1980, 1-12
Stucky, R. A., Die Skulpturen aus dem Eschmun-Heiligtum bei Sidon. Griechische, römische, kyprische und phönizische Statuen und Reliefs vom 6. Jh. v. Chr. bis zum 3. Jh. n. Chr., Antike Kunst, Beiheft 17, Basel 1993, 58 f.
Weber, H., Das Kinderopfer im Alten Testament und im Christentum. In: F. Nyssen / P. Jüngst (Hg.), Kritik der Psychohistorie. Anspruch und Grenzen eines psychologistischen Paradigmas, Gießen 2003, 185-210
Weinfeld, M., The Worship of Molech and the Queen of Heaven and its Background, Ugarit-Forsch. 4, 1972, 133ff.
Weinfeld, M., Burning Babies in Ancient Israel. A Rejonder to Morton Smith's Article in Jaos 95 (1972), pp 477-479. In: Ugarit-Forschungen 10, 1978, 411ff.
Westermann, Cl., Genesis. 2. Teilband Genesis 12-16 (Biblischer Kommentar Altes Testament I/2), Neukirchen-Vluyn 1981 (darin S. 429-447 "Abrahams Opfer [Gen. 22,1-19]" mit ausführlicher Bibliographie)

Abb. 10 Kinder unserer Welt
Momentaufnahmen aus Ashkelon, Elat, Nazareth, Jerusalem
Kindheitsgeschichte öffnet Fenster in das Kindesleben früherer Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende...
und sensibilisiert den forschenden Blick
für das Glück und das Leid der Kinder - in Vergangenheit und Gegenwart.

Anmerkungen:

  1. [1] Zur Erstinformation: L. DeMause (Hg.), Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt a.M. 1980; L. DeMause, Was ist Psychohistorie? Eine Grundlegung, Gießen 2000
  2. [2] T. Veijola, Das Opfer des Abraham. Paradigma des Glaubens aus dem nachexilischen Zeitalter, Zeitschrift für Theologie und Kirche 1988, H. 2, 129ff.; W.H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament, Berlin 4.Aufl. 1989, 84f.
  3. [3] J. le Goff, Das Lachen im Mittelalter, Stuttgart 2004 (aus dem Französischen)
  4. [4] Chr. Vorster, Griechische Kinderstatuen, Phil. Diss. Bonn 1983; D. Hoof, Opfer - Engel - Menschenkind, Bochum 1999, 164 Anm. 60 (betr. Beispiele in Piräus); 252ff. (Beispiele aus/in Brauron (Attika) und Athen; mit ausführlichen weiterführenden Hinweisen)
  5. [5] R.A. Stucky, Die Skulpturen aus dem Eschmun-Heiligtum bei Sidon. Griechische, römische, kyprische und phönizische Statuen und Reliefs vom 6. Jahrhundert vor Chr. bis zum 3. Jahrhundert nach Chr., AK. B 17, Basel 1993
  6. [6] J. Hausmann, Studien zum Menschenbild der Älteren Weisheit (Spr.10ff.), Forschungen zum Alten Testament, Bd. 7, Tübingen 1995 (mit einem Kapitel "Vater - Mutter - Sohn" 105ff.). Siehe auch: H. Delkurt, Ethische Einsichten in der alttestamentlichen Spruchweisheit, Biblisch-Theologische Studien Bd. 21, Neukirchen-Vluyn 1992 (mit einem Kapitel "Eltern und Kinder" 23ff.)
  7. [7] Zur Einführung in die Problemfelder "Stierkulte" und "Frauenkulte": L. Cottrell, The Bull of Minotauros, London 1954; V. Haas, Hethitische Berggötter und hurritische Steindämonen, Mainz 1982; H.G. Haussig, Götter und Mythen im Vorderen Orient, Stuttgart 1965; K. Hoenn, Artemis. Gestaltwandel einer Göttin, Zürich 1946. Siehe auch in: Realenclopädie d. class. Altertumswiss.: Kybele, Mater Magna, Artemis, Tauropolos, Minotauros u.a.
  8. [8] O. Kaiser, Den Erstgeborenen deiner Söhne sollst du mir geben. Erwägungen zum Kinderopfer im Alten Testament, in O. Kaiser (Hg.), Denkender Glaube. Festschrift für Carl Heinz Ratschow, Berlin /New York 1976, 24ff. - Zusammenstellung aller einschlägigen Bibeltexte bei D. Hoof, Opfer - Engel - Menschenkind, 72f.; 85f.
  9. [9] W. Baumgartner, Jephtas Gelübde Jud. 11,30-40, Archiv f. Religionswiss. 18, 1915, 240-249, insbes. 247 ("...sieht man darin [in dem Aufenthalt der Tochter auf dem Berge] eine Anspielung auf einen damals geübten Kultbrauch, vermutlich die Klage um eine weibliche Vegetationsgottheit..."); W. Richter, Die Überlieferungen um Jephta Ri 10,17-12,6, Biblica 47, 1966, 485-556, insbes. 508f. mit Anm. 2 (weiterführender, nicht sehr ergiebiger Hinweis auf eine ugaritische Vergleichs-Quelle für den Weg der Tochter auf den Berg) und S. 512 ("...Es ist kaum festzustellen, wie diese Überlieferung [V.37-40 betr. den Aufenthalt der Tochter auf dem Berge, d.h. in dem Frauenheiligtum] beurteilt werden kann"). Die meisten sonstigen Beiträge zu Jephta und seiner Tochter bewegen sich im Rahmen immanenter Hermeneutik. Das Problem ist noch nicht gelöst.
  10. [10] Beispiele der Nichtbeachtung des Kinderopfer-Problems: H.-M. Lutz, / H. Timm / E.Chr. Hirsch, Das Buch der Bücher - Altes Testament. Einführungen, Texte, Kommentare, mit einer Einleitung von Gerhard von Rad, München 1970; W.H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament, Berlin 4. Aufl. 1989. In beiden Werken kommt "Kinderopfer" weder im Text noch im Register vor. Schmidt gibt auf S. 223 die bekannten Verse aus dem Propheten Micha "Womit soll ich denn vor Jahwe treten ..." (6,6-8) wieder. Mitten in der Textstelle befindet sich Vers 7 mit Kinderopfer-Bezug: "Hat der Herr Wohlgefallen an vieltausend Widdern, an ungezählten Bächen Öls? Soll ich meinen Erstgeboren hingeben für meine Sünde, die Frucht meines Leibes als Sühne meiner Seele?" Schmidt hat diesen Vers ausgelassen und durch drei Punkte "..." ersetzt.
  11. [11] In seiner Satire "Abraham oder eine höhere Trauer" formuliert der Philosoph L. Kolakowski im vorletzten Absatz: "Isaak verwand seinen Schock allerdings nie: seit dieser Zeit schwankte er auf den Beinen, und ihm wurde übel beim Anblick des Vaters...". Die Satire ist abgedruckt bei G. von Rad, Das Opfer des Abraham. Mit Texten von Luther, Kierkegaard, Kolakowski und Bildern von Rembrandt, München 1971.
  12. [12] Ausführlichere, der psychohistorischen Betrachtungsweise verpflichtete Arbeiten gibt es derzeit insbesondere für das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Darin werden soziale, familiäre und religiös-emotionale Daseinsprobleme aufgedeckt, welche in der traditionellen historischen Forschungsweise eher ignoriert wurden. Instruktive Fallstudien hat R. Frenken in seiner Arbeit "Kindheit und Mystik im Mittelalter", Beihefte zur Mediaevistik 2, hg. von P. Dinzelbacher, Frankfurt am Main 2002, geliefert, unter anderem über Heinrich Seuse von 1285-1366. Frenken berichtet im einzelnen und sehr konkret über ein frühkindliches sexuelles Erlebnis-Trauma von Seuse, das von lebensgeschichtlicher Bedeutung für das nachmalige Werk des großen Mystikers wurde. Dahingehende, von der Psychohistorie herausgestellte Sachverhalte verweisen auf Lebensprobleme, die auch in der althistorischen Kindheitsforschung eine Rolle spielen könnten - wenn es entsprechende, aussagefähige Quellen gäbe.
  13. [13] L. DeMause, (Hg.), Hört ihr die Kinder weinen, 12
  14. [14] L. DeMause, Was ist Psychohistorie? 186f. Die von Lloyd DeMause entwickelte "psychogene Geschichtstheorie" baut - wissenschaftshistorisch gesehen - verständlicherweise auf einer vorausgegangenen Bewusstseinsbildung durch die historisch orientierte Psychoanalyse auf. Eine dahingehende, zum großen Teil auf die alttestamentliche Forschung gerichtete, informative Zusammenstellung mit 22 Beiträgen stammt von Y. Spiegel (Hg.), Psychoanalytische Interpretationen biblischer Texte, München 1972. (Hingewiesen sei u.a. auf den Beitrag von C.G. Jung: Über die psychologische Bedeutung des Opfers, a.a.O. 139-151)
  15. [15] Siehe R. Lux, Schau auf die Kleinen... Das Kind in Religion, Kirche und Gesellschaft, 7f. Die Formulierung "Schau auf die Kleinen" entstammt dem Gilgamesch-Epos.
  16. [16] Über das Schulwesen oder über Bildungseinrichtungen im alten Israel gibt es noch kaum hinreichende Erkenntnisse; cf.: L. Dürr, Das Erziehungswesen im Alten Testament und im antiken Orient, Leipzig 1932; G. Wanke, Der Lehrer im alten Israel, in: J.G. Prinz von Hohenzollern / M. Liedtke (Hg.): Schreiber, Magister, Lehrer. Zur Geschichte und Funktion eines Berufstandes, Bad Heilbrunn 1989, 51-59; J.L. Crenshaw, Education in Ancient Israel: Across the Deadening Silence, New York 1998 (mit ausführlicher Bibliographie)

Abgeschlossen im September 2011
Die Rechte für die Bilder liegen bei den angegebenen Museen / Eigentümern, sofern diese vermerkt sind.

Für Einrichtung und Layout bin ich Herrn Daniel Schydlo zu Dank verpflichtet.

© Dieter Hoof, Braunschweig

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Kontakt: Dr. Dieter Hoof